Tod an der Ruhr
Schwester Laurentia hatte einmal gesagt: »Das ist die Welt von heute.«
In Oberhausen waren sie eilig umgestiegen in den Zug nach Arnheim, und zehn Minuten später hatten sie endlich das Ziel ihrer Reise erreicht.
Hinter ihnen lagen anstrengende Stunden auf den harten Bänken der dritten Wagenklasse, und vor ihnen stand das abweisende Sterkrader Bahnhofsgebäude, dieser provisorisch neben die Gleise gestellte, schmuddelige Schuppen. Trotz allem strahlten Schwester Laurentia und Schwester Josephine.
Das Empfangskomitee, das ihnen ebenso strahlend entgegeneilte, bekräftigte die beiden Ordensfrauen in ihrer tiefen Überzeugung, dass niemand anders als ihr himmlischer Vater ihren Weg nach Sterkrade gelenkt hatte. Der hochwürdige Dechant Anton Witte, der Gemeindevorsteher Carl Overberg, der Polizeidiener Martin Grottkamp und der Heildiener Jacob Möllenbeck brachten ihre Freude über die Ankunft der beiden Barmherzigen Schwestern so überschwänglich zum Ausdruck, dass Josephine und Laurentia sich alle Mühe geben mussten, nicht der Versuchung des Hochmutes zu erliegen. So wichtig wie in diesem Augenblick waren sie sich in all den Jahren ihres klösterlichen Lebens noch nicht vorgekommen.
Als sie kurz darauf mit wehenden Gewändern und wippenden Hauben über die Bahnhofstraße gingen, hatten sie jedoch zu den Tugenden der Demut und der Bescheidenheit zurückgefunden. Sie trugen ihre schweren Taschen eigenhändig, obwohl alle vier Herren sich mehrmals erboten hatten, ihnen die Last abzunehmen.
»Als ich gehört habe, dass wir nach Sterkrade in die Pfarrei Sankt Clemens sollten, habe ich sofort gewusst, dass wir Clemensschwestern uns hier wohl fühlen würden«, sagte Josephine fröhlich.
»Ich dachte, Sie gehörten dem Orden der Barmherzigen Schwestern an«, wunderte Jacob Möllenbeck sich.
»Der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria«, erklärte Josephine freundlich. »Unser Mutterhaus war bis 1862 das Clemenshospital in Münster. Deshalb nennen wir uns auch Clemensschwestern. Da passen wir doch wunderbar hierher, finden Sie nicht? Und dann feiern wir heute auch noch das Fest Mariä Geburt. Das ist doch geradezu ein herrlicher Tag, um etwas Neues zu beginnen.«
Schwester Josephine, die ältere und kleinere der beiden Ordensfrauen, erfreute Pfarrer Witte und den Heildiener Möllenbeck mit ihrem strahlenden Lächeln. Ein paar Schritte hinter dem Trio folgte Schwester Laurentia, flankiert vom Gemeindevorsteher und seinem Polizeidiener.
»Ein aufregender Ort«, stellte Laurentia schon wenige Minuten nach ihrer Ankunft in Sterkrade fest. »Das Alte und das Neue so einträchtig beieinander. Wirklich schön.«
Grottkamp blickte sich erstaunt um. Was sah diese Ordensfrau da bloß? Er konnte nichts Schönes entdecken an den modernen Wohn- und Geschäftshäusern mit ihren zwei oder gar drei Geschossen, den viel zu großen Fenstern, den protzigen Erkern und den überflüssigen Ornamenten. Solche Gebäude gehörten nach seiner Überzeugung in die Stadt und nicht in das Dorf Sterkrade, wo sie die alten bäuerlichen Fachwerkhäuser ums Doppelte und Dreifache überragten und in den Schatten stellten.
Dem Gemeindevorsteher gefiel Laurentias Sicht der Dinge. »Ja, Sterkrade nimmt eine erfreuliche Entwicklung«, stellte er voller Stolz fest. »Und all die Baulücken, die Sie hier noch sehen, die werden in einigen Jahren auch verschwunden sein.«
Baulücken? Für Martin Grottkamp waren das immer noch Wiesen, auf denen das Vieh weidete, und Felder, die Früchte trugen. Er strich ärgerlich durch sein buschiges Barthaar und schwieg.
Dafür plapperte Schwester Laurentia umso munterer vor sich hin: »Vor fünf Stunden waren wir noch in unserem Mutterhaus in Münster, und jetzt sind wir schon hier, wo wir gebraucht werden. Sind das nicht Geschenke des Himmels, die Eisenbahn und all die Dinge, die den Menschen heute das Leben erleichtern?«
Offenbar hatte diese junge Nonne den größten Teil ihres bisherigen Lebens hinter Klostermauern verbracht. Nur so konnte Grottkamp es sich erklären, dass sie die Errungenschaften der modernen Zeit für Geschenke des Himmels hielt.
Overberg dagegen teilte Laurentias optimistischen Blick auf die Welt von heute ohne Wenn und Aber.
»Ja, das ist großartig«, stellte er fest und erklärte der Ordensfrau, dass Sterkrade die Eisenbahn, wie so vieles andere auch, der Gutehoffnungshütte zu verdanken habe. »Franz Haniel, einer
Weitere Kostenlose Bücher