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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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hatte, falls er sie je zu Gesicht bekommen würde. Hoch über ihrer Schulter erschien in diesem Moment auch das düstere Gesicht des Leibwächters.
    »Wo ist der Arzt?«, fragte er mit einer tieferen Stimme, als Gowers sie je an einem menschlichen Wesen gehört hatte, aber in perfektem Englisch.
    »Hier«, sagte Van Helmont, der mit seiner Tasche hinter den beiden aufgetaucht war. »Und er wäre froh, wenn Sie ihn durchlassen würden. Der Mann braucht meine Hilfe!«
    »Auch wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte die Gouvernante, bevor sie zur Seite trat und den Weg freigab. »Kommen Sie bitte so bald wie möglich in unsere Kabine.« Mit einem funkelnden Blick auf Gowers fügte ihr Leibwächter hinzu: »Nur Sie!«

107.
    Ben stahl am liebsten Bücher. Er las sie, bevor er sie weiterverkaufte, und was er verlor an »einträglicheren Geschäften«, gewann er an Wissen über die Welt.
    Am meisten bedrückte ihn der nicht mehr endende Kummer seiner Mutter. Hatten sie anfangs auch schöne Tage gehabt, Pläne geschmiedet, so verfiel sie jetzt immer öfter in ein dumpfes Schweigen, Grübeln über Dinge, die sich nicht ändern ließen, anstatt sie zu nehmen, wie und wann sie kamen.
    Am schlimmsten war für Jane, dass sie bei jedem ihrer Streifzüge ihre Existenz neu aufs Spiel setzen mussten und nie zur Ruhe, zu einer gewissen Sicherheit kamen. Ihre Existenz  – das war nie mehr als ein kleines Zimmer in halb- oder vierteljährlich wechselnden Herbergen, manche besser, manche schlechter. Das Spiel war die große Stadt. Und die sichere Erkenntnis, dass sie es am Ende verlieren würden, kostete Jane allmählich die letzten Reste ihres ruhigen Gemüts.
    Sogar ihre Angst, ihre Sorge um Ben wich in solchen Stunden einer düsteren Sehnsucht nach diesem Ende, obwohl sie sich das nie eingestand. Sie würde es ja für ihn tun, redete sie sich den Gedanken schön, einen Raubmord zu begehen, dem Jungen das Geld zu geben, ihrer Schulden an das Leben damit ledig zu sein und dann nicht mehr davonzulaufen vor den Kugeln, Knüppeln und Scheren ihrer Verfolger.
    Hatte sie nicht schon einen Mann erschlagen für weniger? Sich totprügeln lassen für gar nichts? Was war sie denn außer einer zahnlosen alten Frau, mit siebenundzwanzig Jahren am Ende eines sinnlosen Weges?
    Sie erwachte immer noch rechtzeitig aus solchen Zuständen; rechtzeitig, um das verängstigte Kind unter ihren Händen
nicht zu töten, rechtzeitig, um wegzulaufen, oder rechtzeitig, um dem Kaufmann, der sie schon am Arm gepackt hielt, ihre halbe Krone zu zeigen.
    »Gestohlen, Sir? Ich muss doch sehr bitten! Ich war wohl in Gedanken. Hier, ich kann ja bezahlen. Aber wenn ich’s mir recht überlege, möchte ich einem Mann, der mir einen Diebstahl zutraut, nichts zu verdienen geben. Da, nehmen Sie Ihr Garn, Tischtuch, Besteckmesser, Ihre Vase, Tasse, Schnupftabakdose, Ihren Türknopf, Kamm, Seidenschal … zurück und belästigen Sie mich nicht weiter, sonst rufe ich einen Schutzmann!«
    »Entschuldigung, Miss. Aber man muss heutzutage schon höllisch aufpassen!«
    Ben bewunderte seine Mutter in solchen Momenten unendlich und benutzte die Gelegenheit, das Doppelte von dem einzustecken, was sie dem Mann zurückgab. Leider konnte sie auch darüber nicht mehr lachen.
    Er glaubte, wenn er sie so müde und stumpf dasitzen sah, dass sie nur noch an den nächsten Tag denken konnte. Und den nächsten und den nächsten und nächsten. Woher hätte er wissen können, der Zehnjährige, dass Jane immer nur an vergangene Tage dachte, vergangene, vergangene und vergangene?
    In diesem Vorfrühling 1846 erhob sie sich von ihrem Lager, taumelte hinaus in die ersten warmen Tage wie eine Bärin nach ihrem Winterschlaf. Tatsächlich war der Winter ihre schlechteste Zeit, so eng sie auch zusammenkrochen, was sie auch taten, sie wurden monatelang nicht warm und nicht einmal immer satt. Ihr letztes Geld war verbraucht. Ben hustete, er war krank. Sie selbst hatte Fieber, sie spürte es. Etwas musste geschehen, und es musste schnell und viel einbringen, die erste Beute musste gute Beute sein.
    Jane ging deshalb durch Mayfair, zum Hyde Park, wo die Bürger wieder spazieren gingen, sich selbst und der Stadt ihre neuen Kleider zeigten nach der Häutung im Winter. Mit der seltsam, fast schmerzhaft geschärften Wahrnehmung, die nur Fieber oder äußerste Erschöpfung verleiht, hörte sie es schon von Weitem. Ein toller Spaß musste es sein, ein Johlen und Lachen von jungen Stimmen, jungen Männern und Frauen,

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