Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
das Wasser. Aber was taten diese Idioten? Er war noch nicht weit genug achtern, er würde nicht um das Schiff herumkommen.
Riesig, dunkel und hart wuchs die Bordwand vor ihm aus dem Meer.
106.
Das Kielholen war eine Strafmaßnahme, die in der britischen Marine seit über fünfzig Jahren verboten war. In den Napoleonischen Kriegen hatte man sie noch hin und wieder praktiziert, aber auch dann nur in schweren Fällen von Desertion, Verrat oder dem Angriff auf Vorgesetzte. Die Männer, die dieser Strafe ausgesetzt wurden, starben zwar nicht unbedingt daran, wünschten sich aber nichts sehnlicher als den Tod, wenn es erst einmal angefangen hatte.
Es waren nicht nur alle Qualen des Ertrinkens, nicht nur der scharfe Schmerz, wenn die am Schiffsrumpf festgewachsenen Muscheln und Bohrwürmer, eisernen Kanten, Vorsprünge die Haut von den Knochen schabten, tief durch lebendiges Fleisch schnitten. Es war auch das Entsetzen, den ungeheuren kalten Leib über sich zu fühlen, langsam zermalmt zu werden wie ein Wurm im Schlamm. Es war die vollkommene Agonie, ein grausamer Todeskampf ohne die Erlösung des Todes.
Was schließlich nicht nur die stärksten Körper, sondern auch die Seelen zerbrach, war die völlige Ohnmacht, dem Tau und den Männern, die daran zogen, ausgeliefert zu sein, das Gefühl, menschlicher Gemeinschaft nicht mehr anzugehören, nur noch ein Köder zu sein für die grauen Räuber des Meeres.
Als sie ihn, die Füße voran, Backbord hochhievten, glich der dritte Lord Eden einer abgezogenen Rinderhälfte. Blut und Wasser tropften aus den blonden Haaren. Bei dem Versuch, ihn mit einem Ruck über das Schanzkleid zu ziehen, brach sein rechtes Schienbein, und sie sahen an seinem wilden Zucken, dass noch Leben in ihm war. Sobald das Opfer vor ihr lag, zerstreute sich die Menge, und jeder kämpfte für
sich mit seinem Gewissen und dem Gefühl, eine gute Tat begangen zu haben.
Jetzt erst wagten sich Gowers und Van Helmont heran. Der Arzt untersuchte den halb toten Menschen, die nicht sonderlich tiefen, aber grausamen Wunden, in denen das Salzwasser brannte. Eden erbrach sich, rang nach Luft, heulte vor Entsetzen und fiel schließlich in Ohnmacht.
Gowers, der sich besser als jeder andere vorstellen konnte, was der Lord durchgemacht hatte, aber dennoch kein Mitleid mit ihm empfand, entschied: »Bringen wir ihn erst mal in seine Kabine. Los, fassen Sie an!«
Während er selbst die Schultern nahm, ergriff Van Helmont die Knie des Gefolterten und sagte kopfschüttelnd: »Ich habe weiß Gott schon viele Methoden gesehen, einen Mann umzubringen, aber das hier ist mit Abstand die widerlichste!«
Gowers zuckte die Achseln und murmelte: »Seerecht!« Und im gleichen Moment stutzte und stockte er so plötzlich, dass die zerschundenen Reste des dritten Lord Eden beinahe wieder aufs Deck gefallen wären.
»Was ist los, zum Teufel?«, fragte der Arzt, als Gowers ihn mit großen Augen ansah. »Machen Sie schon weiter! Ich kann das nicht stundenlang.«
»Entschuldigung, Doc«, sagte Gowers und ging langsam weiter, rückwärts zum Heck.
»Hier! Die hat er vergessen!« Ein Matrose warf Edens Peitsche über den leblosen Körper, und der Investigator blieb zum zweiten Mal stehen. »Gehört ihm, dem Sausack!«, sagte der Mann, als Gowers ihn nur fragend anstarrte.
»Woher haben Sie die?«
»Lag in Barclays Hängematte, heute Morgen.«
»Hee«, rief der Arzt, der seine Kräfte schwinden fühlte. »Ich erwähne es ja nicht gern, aber ich habe nur ein Bein …«
Endlich waren sie in Edens Kabine angekommen und legten den blutigen Körper aufs Bett. Van Helmont streckte sich kurz und verschwand dann sofort, um seine Tasche zu holen. Gowers betrachtete angewidert, was von Lord Eden übrig war. Er musste das Gesicht weggedreht haben, denn Nase und Mund waren unversehrt, dafür war die rechte Seite des Kopfes aufgerissen und das Ohr beinahe abgetrennt. Eine Brustwarze fehlte völlig.
Er sah sich die Peitsche an. Gestern Abend war sie definitiv nicht in George Barclays Hängematte gewesen, und seine Rotoren begannen zu arbeiten. Eden kam langsam wieder zu sich und stöhnte.
»Bleiben Sie lieber ohnmächtig, Mann!«, riet ihm Gowers gedankenverloren. Dann sah er die indische Gouvernante, die in der offenen Kabinentür stand und sprachlos den blutigen, nackten Mann auf seinen seidenen Laken anstarrte. Es war nicht gerade ein Anblick, der zu der zwanglosen kleinen Plauderei einlud, in die Gowers diese Dame zu verwickeln beabsichtigt
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