Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
einen kleinen Investigator, einen Straßenköter wie ihn damit beauftragte, seine verschwundene Tochter aufzutreiben, konnte das nur eins bedeuten: Der Mann wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Oder noch genauer: Der Mann fürchtete das öffentliche Interesse wie der Teufel das Weihwasser. Dass er weder die Stadtpolizei noch das Heer der Spitzel und Zuträger benutzt hatte, über die Tammany Hall verfügte, sagte dem Investigator noch mehr. Vermutlich wusste nicht einmal ein halbes Dutzend Leute, dass Caroline überhaupt verschwunden war.
Weiß Gott, alles wäre einfacher, wenn es eine Entführung gewesen wäre! Gowers hätte das Mädchen gefunden, Papa Blandon wäre begeistert gewesen, die Bezahlung nur eine Formsache. Jetzt stimmte leider nur der erste Teil: Gowers hatte das Mädchen aufgetrieben. Aber wie begeistert würde der Senator von den näheren Umständen sein? Von schmutzigen Fotos, die irgendwann, irgendwie auch seinen feinen Freunden vom Americus-Club vor die stets gierigen Augen kommen würden? Wie es ihm beibringen?
»Ja, Mr. Blandon, Ihre Tochter ist am Leben. Ja, sie hat sogar ziemlich viel Spaß daran … Sehen Sie selbst!«
Gowers musste unwillkürlich lachen, als er sich die Szene
vorstellte. Dann dachte er an das Schicksal, das die Überbringer schlechter Botschaften von jeher zu treffen pflegte, und konzentrierte sich wieder auf den Rest seiner Zigarre. Er spürte schon die Hitze an seinen Lippen, als er die Glut vorsichtig mit zwei Fingern abknipste. Den schäbigen Stummel verstaute er in einer Blechkiste, die bereits halb gefüllt mit schwarz angekokelten, trockenen Tabakresten auf der Fensterbank zum Himmel stank. Daneben lag eine Pfeife.
4.
Jackson stieg hastig die vier steilen Treppen hoch und geriet dabei außer Atem. Sein Herz klopfte merkwürdig kalt in der plötzlich zu engen Brust. Sie hatten ihn gefunden, einer von ihnen! Er wusste nicht, wie, er wusste nicht, wer, aber einer von ihnen hatte herausgefunden, wo er war und was er tat. War es Turner? Mit Turner hatte er manchmal darüber gesprochen, aber mit wem mochte seinerseits Turner geredet haben? Sollte er auf den geheimnisvollen Besucher warten? Vernünftig mit ihm reden? Aber womöglich verlangte der andere dann Auskunft darüber, wie weit er gekommen war bei seiner Suche.
Die Uhr zeigte gerade neun. Elf Stunden. Nein, er würde Paris verlassen, mit dem ersten Zug. Er würde nach Marseille gehen, in die Richtung, die niemand erwarten konnte.
Mit fahrigen Händen entzündete er das Gaslicht und goss dann einen Schluck Branntwein in das Glas, das er neben der Flasche auf dem Tisch stehen gelassen hatte. Eine kleine Pfütze war noch vom Morgen darin. Anschließend begann er, seine wenigen Sachen zu packen, trat an den Kleiderschrank und holte eine Hutschachtel heraus, seinen Schatz. Kaum hatte er ihn in den Händen, wurde er ruhiger.
Er stellte Flasche und Glas auf den Boden und entfaltete auf dem Tisch den großen, sehr sauber gearbeiteten Plan, den er aus der Hutschachtel genommen hatte; einen Plan des Friedhofs Père Lachaise, die geduldige Arbeit der letzten zwölf Monate. Er war sehr stolz auf sein Werk. Auch die kleinsten Wege waren eingezeichnet und Tausende von Gräbern, oft ganze Gräberfelder nur durch ein rechteckiges Kästchen markiert, in das dann ein kleines V, wie ein Haken, eingezeichnet war.
Es war keine leichte Arbeit gewesen. Wichtig waren die Grabstätten, die mit Namen und Jahreszahlen verzeichnet waren, denn das waren die, die er suchte: die ältesten, sämtlich vor dem 8. Juli 1815 angelegt. Andere interessierten ihn nicht. Durch Dickicht und Dornen hatte er sich hindurchgewunden, um die Daten zu sammeln.
Elf Stunden! Das war viel Zeit. Eigentlich konnte er die Gräber und Grüfte, die er heute erkundet hatte, noch in seinen Plan eintragen. Er ging zu seinem Mantel, holte den vom Nebel und seiner Körperwärme noch klammen Bogen Papier heraus und begann mit der Ruhe, die nur eine oft und mit Geschick ausgeübte Tätigkeit vermittelt, seinen Plan vom Père Lachaise weiter zu vervollständigen.
Kein Geräusch schreckte ihn auf, keine Angst trieb ihn um, er war ganz bei sich. Und als er nach drei Stunden fertig war, aufstand und die vom Schreiben verkrampften Finger lockerte, lief er in den Bereich der seidenen Schlinge, wie eine Fliege im Netz einer Spinne landet. Ahnungslos, weich, ohne Todesangst, nur zutiefst verwundert. Dabei stand die Spinne schon lange hinter ihm, reglos, ein
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