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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Hände zerrten an ihr, Fäuste schlugen nach ihr, Stiefeltritte trafen sie im Bauch und im Rücken. Sie wurde einfach fortgespült. Kam noch einmal auf die Beine, fast zehn Meter vom Haus entfernt, da waren ihre Kleider
schon zerrissen, war sie halb nackt und trug nur noch einen Schuh. Den linken, in dessen Schnürsenkel sie heute Morgen aus Versehen einen Knoten geschlagen hatte.
    Jane wollte zum Haus zurücklaufen, aber Fingernägel rissen an allen Teilen ihres Körpers, und Schläge von überallher hinderten sie daran, auch nur die Augen zu öffnen. Oder war es das Blut? Ein Stockschlag in die Nieren ließ sie zu Boden gehen, fast gleichzeitig traf ein Fausthieb ihre Schläfe, ihren Kiefer. Sie rollte sich am Boden zusammen, versuchte, in die Erde zu kriechen. So viel Hass, so viele Hände griffen nach ihr! An den Haaren wurde sie hochgerissen, eine Strecke geschleift, dann hörte sie das Quietschen der Schere, fühlte einen scharfen Schmerz quer durch ihr linkes Ohr, schrie und hörte im Heulen, Johlen der Menge ihren eigenen Schrei nicht.
    Blutend, geschoren, ließ man sie eine Sekunde lang liegen, und sie hörte furchtbare Stimmen von allen Seiten: »So, die Frau Lehrerin. Schlagt ihr die Zähne ein! Brecht ihr die Nase. Holt einen Mann, der es ihr richtig besorgt. Holt einen Schürhaken!«
    Jane fühlte, wie ihre Vorderzähne zerbrachen, als jemand mit einem Stein auf ihren Mund einschlug, und fürchtete, dass auch alles andere geschehen würde, aber dann hörte sie neue Schreie: »Haltet den kleinen Bastard! Schlagt ihn tot. Passt auf, er hat ein Messer! Er hat mich erwischt!«
    Da wusste sie, dass Ben ihr nicht gehorcht hatte und sterben würde, wie sie gerade gestorben war.
     
    Aber es geschah nicht an diesem Tag.
    Als die Frauen ihn schon am Boden hatten, ohne dass er sein Messer losgelassen hätte, als ihn die Knüppel trafen und er nahe bei seiner Mutter lag, hörte mit einem Mal alles auf. Ein Moment Stille entstand in dem Toben und Heulen und
ein leerer Kreis um Jane und den Jungen, vielleicht anderthalb Meter, inmitten der Menge.
    Jane schlug die Augen auf, wischte den roten Nebel mit der Hand fort. Über ihr stand Beth, eine abgebrochene Flasche in der Hand, und wahrscheinlich fragten sich beide, was sie im nächsten Moment damit tun würde.
    Dann lachte Beth leise und dunkel und sagte: »Ihr Drecksäue! Gottverfluchte Tiere, kommt ran! Wer den Jungen anrührt, dem zerschneide ich die Fresse von einem Ohr zum anderen. Kommt ran!« Sie wurde lauter und lauter. »Na, kommt doch! Ich hab schon einen Mann erschlagen, im Berg, mit meinen Händen!«
    Eine kreischende, wilde Stimme schrie: »Du kannst uns nicht alle kriegen, Beth Irvine!«
    »Nein.« Beth lachte jetzt böse, spuckte ihre Worte in großen Flocken in die hundert Gesichter. »Nicht alle. Aber jede. Nicht jetzt. Aber morgen. In einer Woche. In einem Jahr. Ich vergifte eure Bälger, ich hänge sie in die Bäume! Ich verbrenne eure Häuser und pisse in die Asche!«
    So groß war ihr Zorn, dass die Menge sich vor ihr teilte. Sie zog Ben hinter sich her, Jane folgte den beiden, auf Händen und Knien. Die Frauen schlugen sie nicht mehr. Aber sie spuckten jetzt, warfen mit Steinen und Dreck. Junge Burschen, einige Männer, Volk, das inzwischen gehört hatte, dass »etwas los« sei, stand dabei, lachte ungläubig.
    Ein Schwall kalten Wassers traf Janes Kopf, ihren zerschlagenen Körper.
    »Wasch dich erst mal, Frau Lehrerin!«
    Dann war es nur noch Gelächter, durch das sie kroch. Sie sah jetzt auch wieder. Sah den endlos langen Weg durch das Dorf vor sich. Sah, wie Ben anhielt und auf sie wartete. Ihre Hände im Staub. Dann nichts mehr.

89.
    Der Sergeant wusste, dass dies der letzte Tag seiner langen Wache war.
    Frankreich hatte sich 1840 entschieden, den Kaiser heimzuholen. Die Bourbonen brauchten eine gute Presse, und Napoleon würde sie ihnen beschaffen. Nicht der Dritte dieses Namens, der Neffe des Korsen, der am gleichen Tag in die Festung Ham wanderte, an dem die Belle-Poule vor Jamestown Anker warf. Sondern der große Bonaparte selbst, der Mann, der seit neunzehn Jahren im Geraniumtal auf St. Helena unter einem weißen Stein ohne Inschrift lag, weil Briten und Franzosen sich nicht einmal über seinen Namen einig waren: Napoleon I., Kaiser der Franzosen oder General Bonaparte, Prisoner of War . So hatte der Sergeant einen Namenlosen bewacht, Tag für Tag.
    Am Anfang hatten sich die Leute über ihn lustig gemacht: ein kriegsversehrter

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