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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dass Ihr neuer Gouverneur Samuel Thompson auf See verstorben ist. Ich habe diese traurige Botschaft selbst gerade erst erhalten und hoffe, dass uns allen der Sohn des lieben Verstorbenen Näheres darüber mitteilen kann.«
    Er trat geschickt zwei Schritte zur Seite und exponierte damit den unglücklichen Gowers, der sich in seiner Deckung bereits wieder entspannt hatte. Alle Augen wandten sich, alle Herzen flogen ihm zu, während er den Gouverneur mit Blicken zu durchbohren versuchte und am liebsten »Giftzwerg! Lügner! Fiese alte Schlange!« gesagt hätte. Stattdessen stammelte er, mühsam ein Wort ans andere flechtend: »Ich bin überwältigt von diesem, diesem so überaus herzlichen Empfang, den mitzuerleben meinen Vater, meinen verstorbenen Vater sicherlich auch überwältigt hätte, der ihn aber auch glücklich gemacht haben würde und auch stolz. Stolz auf Sie.«
    Er stockte, weil er schon jetzt nicht mehr wusste, was er eigentlich gesagt hatte; vor allem aber, weil die Worte »Und wenn er mich jetzt sehen könnte …« in seinem Gehirn aufgetaucht waren und keinen Platz mehr für irgendetwas anderes ließen. Er wusste aber, dass er das nicht sagen könnte, ohne ein prustendes »Dann würde er sich ziemlich wundern« hinzuzufügen, also tat er das bei Weitem Klügste, was er tun konnte: Er verstummte.
    Die Menge applaudierte höflich. Schließlich hatte der Mann gesagt, dass er überwältigt war. Was konnte man mehr verlangen? Inzwischen hatte glücklicherweise der Gouverneur genügend
passende Worte gefunden, um das unvermutete Ereignis in eine Länge zu ziehen, die dem ganzen Aufwand wenigstens halbwegs angemessen war. Er dankte Daniel Thompson für seine bewegende Ansprache, erdichtete kurzerhand eine Begegnung mit dem Verblichenen, in glücklicheren Tagen, in der Fülle seiner Kraft, seiner Hoffnungen, seiner vielversprechenden Gaben – und sprach dann ganz einfach über das Schiff.
    Dass alles noch viel tragischer sei, weil man gerade von diesem Schiff und von dem, was es dieser Insel schon an Weltgeltung gebracht hatte, einen glückverheißenden Neuanfang hätte erwarten dürfen, einen Aufschwung in jeder Hinsicht. Aber Samuel Thompson, der Mann, der diesen Aufschwung gebracht hätte, sei vor der Zeit von Bord gegangen, abberufen worden auf einen größeren Ozean, zu höheren Aufgaben. Dann folgten so viele schmeichelhafte Vergleiche zwischen dem Verstorbenen und dem ersten Kaiser der Franzosen, dass Gowers, der zuletzt kein Wort mehr verstanden hatte, allmählich dämmerte, was es mit der Northumberland auf sich hatte. Und verwirrt, wie es wohl nur ein Detektiv sein kann, der seine Informationen gewöhnlich in Hinterzimmern und im Flüsterton, nicht aber vor staunendem Publikum und mit Chorbegleitung erhält, unterbrach er den Redner mit der Frage: »Sie meinen, Napoleon ist auf diesem Schiff nach St. Helena gekommen?«
    Mit einem säuerlichen kleinen Nicken bedeutete ihm der Gouverneur, dass er störe, aber Gowers kümmerte sich schon nicht mehr um ihn oder um die Menge, die Fahnen, die strammstehenden Soldaten. Er wusste jetzt, was er wusste und was ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Die Rotoren in seinem Kopf arbeiteten so schnell, dass er kaum mitbekam, wie die Versammlung sich zerstreute, und das Erste, was er wieder deutlich sah und hörte, war das amüsierte Gesicht von
Van Helmont, der ihm zuflüsterte: »Schade, mein Junge. So eine Gelegenheit, Gouverneur von irgendwas zu werden, kriegen Sie nie wieder!«

92.
    Die Witwe Abell war ihm von allen, die er fragte, als ein historisch so kenntnisreiches und bibliophil so beschlagenes Wesen beschrieben worden, dass er auf das Schlimmste, Älteste, Hagerste gefasst gewesen war, als er an ihrer Türglocke zog. Auch mit vielem gerechnet hatte, nur nicht mit einer allenfalls fünfundvierzigjährigen Dame, die sich Lächeln, Art und Figur eines jungen Mädchens bewahrt hatte und von Anfang an andere Gefühle in ihm weckte als das Interesse an Montholons La captivité de l’empereur Napoleon à Sainte-Hélène , Las Cases’ Mémorial oder O’Mearas Napoleon in exile .
    »Ah, der Herr Gouverneur«, begrüßte sie ihn mehr freundlich denn ironisch, als sie ihn vor ihrer Tür fand. Mit jener umstandslosen, sich selbst nicht thematisierenden Offenheit, die nur sehr selbstsichere Menschen haben, führte sie ihn in ihre tatsächlich gut sortierte Bibliothek und ließ ihn nach kurzem Suchen mit allen Informationen, die es 1865 über die Northumberland

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