Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
gab, allein.
Gowers war zu verwirrt, um sich auch nur zu wundern. Einerseits, weil er auf dieser kleinen Insel am Ende der Welt plötzlich alles fand, was er suchte, so als hätte es nur auf ihn gewartet. Andererseits, weil ihm schlagartig klar wurde – durch die zwei Tage alten Blumen auf dem Fensterbrett, die Andeutung von Parfüm in der Luft, die sehr private Ordnung oder eben Unordnung im Zimmer und das anschwellende Geräusch kochenden Wassers aus der Küche –, wie lange er
schon nicht mehr als ganz normaler Mann in der Wohnung einer ganz normalen Frau gewesen war. Und wie sehr er es vermisst hatte.
»Ich wusste gar nicht, dass es das Schiff noch gibt«, sagte Lucia Elizabeth Abell, als sie mit zwei Tassen Tee wieder hereinkam. »Bis sie vor anderthalb Jahren plötzlich hier aufkreuzte.«
»Sie war schon mal hier?« »Aber sicher. Alles, was Northbrook gestern erzählt hat, haben wir damals schon gehört, Wort für Wort.« Sie lachte. »Wir sind hier nicht sehr wählerisch bei unseren kleinen Unterhaltungen. Vermutlich werden wir es in anderthalb Jahren noch mal hören, falls das alte Wrack dann noch schwimmt.«
Sie ließ erfreulich offen, ob sie das Schiff oder den Gouverneur meinte. Dann nahm sie die Brille ab, die sie zum Studium der verschiedenen Bücher aufgesetzt hatte und die ihre dunklen Augen so sehr vergrößerten, dass man kaum daran vorbeisehen konnte.
»Ich könnte Ihnen auch meine Zeichnungen überlassen. Ich war beim letzten Mal an Bord und habe alles ausgemessen, nach Montholon. Ich weiß, wo die Quartiere waren, wer wo gewohnt hat …«
Sie warf die letzten Sätze aus wie einen Köder, und Gowers wurde so unruhig wie ein hungriger Hai. Da legte sie ganz plötzlich ihre Hand auf sein Knie und sagte ein bisschen spöttisch, ein bisschen mitleidig: »Daniel, Sie suchen doch nicht danach . Oder?«
»Ich suche nicht wonach ?«, fragte Gowers zurück, dem die Berührung angenehmer war, als ihm im Augenblick lieb sein konnte. Da nahm sie ihre Hand auch schon wieder weg und lehnte sich bequem in ihrem Schaukelstuhl zurück.
»Immer wieder tauchen auf dieser Insel Leute auf, die nicht
glauben können, dass der Mann ohne einen Pfennig gestorben ist. Sie suchen Napoleons Schatz!« Lucia Elizabeth Abell sah in diesem Moment aus, als ob ihre Lachfältchen von ihrer Belustigung über diese Leute herrührten. »Einige suchen auf Korsika, andere auf Elba, manche sogar bei Waterloo! Die Verrücktesten kommen hierher. Im Moment sind es die Franzosen. Seit sie Longwood vor vier Jahren gekauft haben, wühlen sie heimlich da oben herum. Sie sagen, es soll ein Museum werden.«
Sie wippte in ihrem Stuhl leicht hin und her und lächelte dabei so schelmisch, dass er am liebsten seine Hand auf ihr Knie gelegt hätte.
»Woher wissen Sie das alles? Dass er kein Geld hatte?«
Sie stand auf und zog ein Buch aus dem untersten Regal, Abells Recollection of the emperor Napoleon . Gowers wollte eine anerkennende Bemerkung machen, konnte aber dann nicht mehr als ziellos in ihrem Werk herumblättern, denn die schöne Autorin hatte sich neben ihm auf dem Boden niedergelassen und lehnte sich an seinen Sessel. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und ringelte sich in ihrem Nacken. Sie war von einem seidigen Schwarz.
»Ich kannte Betsy Balcombe. Und Betsy kannte Bonaparte, sie war fast täglich bei ihm in Longwood, drei Jahre lang.«
Als das Blättern und das Schweigen ihm zu dumm wurden, schob er seine Hand über die Sessellehne und begann, mit der Haarsträhne in ihrem Nacken zu spielen, ohne dass sie ihn durch irgendeine Regung, Bewegung daran gehindert hätte. So weit gekommen, wollte er sie küssen, aber sie nahm ihm zuerst die Teetasse ab und stellte sie auf ein niedriges Tischchen, in sicherer Entfernung. Ihre Bewegungen dabei, mit den Knien am Boden, waren mühelos, geschmeidig, ohne Alter.
Und bevor sie ihn zu sich herabzog, sagte sie noch: »Ich bin
eigentlich keine Witwe. Ich war nie verheiratet. Aber vieles ist leichter, wenn die Leute das denken.« Vieles ist leichter, wenn eine Frau so denkt, dachte Gowers und küsste die kleinen Druckstellen, die die Brille auf ihrer Nase hinterlassen hatte.
Nachdem sie sich satt geküsst hatten, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer.
»Wie kommst du hierher?«, fragte er, nur um noch irgendetwas zu sagen, bevor sie sich ausziehen würden.
Sie lachte. »Ich sage doch: Die Verrücktesten kommen hierher!«
In diesem Moment ging die Türglocke,
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