Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
inzwischen etliche. Hätte Napoleon bei Waterloo all die Säbel getragen, die später als »der echte« auftauchten, er hätte die Schlacht gar nicht verlieren können.
Ein ganz ähnlicher Nachahmungstrieb erstreckte sich auch auf Manschettenknöpfe, Schnupftabakdosen, Fußbänkchen und sogar ein transportables Klosett. Alles, was ihm gehört
hatte oder wovon es hieß, dass es ihm gehört habe, wurde hoch gehandelt.
Bertrand wusste das. Und ihm lag nicht viel an dem Säbel. Ihm lag an der Geranie, die er, der Held vieler Schlachten, der hochdekorierte General Frankreichs, seinem Petit Caporal bei der kurzen Exhumierung heimlich in den Sarg gelegt hatte und die nun neben dem Kaiser im Invalidendom ruhte.
Es war eine der Geranien, die noch seine Frau, Madame Bertrand, die letzte Bettgenossin des großen Mannes, einst auf dem fernen Grab im Atlantik gepflanzt hatte, weil sie und nur sie wusste, dass Napoleon Bonaparte, der Herr der Welt, diese kleinen Blumen liebte, seit er auf Korsika in einer Wiese gesessen und den Maikäfern ein Liedchen gesungen hatte, um sie zum Auffliegen zu ermuntern.
96.
»Und du hast ihn gesehen?«, fragten die Zuhörer begierig.
»Ja, ich hab ihn gesehen«, log der Matrose, »hab ihn so deutlich gesehen, wie ich euch hier sehe. Er sah aus, als würde er schlafen.«
»Er hat nie geschlafen, nie mehr als vier Stunden«, sagte ein zahnloser alter Soldat in einem anderen Winkel der Kneipe. »Ich hab ihn gut gekannt. Nicht bloß seine Leiche gesehen!«
Nur wenige hörten ihm zu. Paris war heute voller Veteranen, alten Männern, die ihre geflickten Uniformen, die verbotenen Uniformen der Großen Armee, wieder angelegt hatten. Weit gereist waren, aus allen Provinzen, viele zu Fuß, um ihrem Feldherrn die letzte Ehre zu erweisen. Sie nannten ihn natürlich nicht den Kaiser, für sie war er Napoleon oder der kleine Korporal. Und für ein paar Sous erzählten sie ihre alten
Geschichten aus einer anderen Welt, von Marengo, den Pyramiden, Austerlitz, Borodino. Sie standen an allen Ecken, jeder konnte sie hören.
Da war ein echter Matrose von der Belle-Poule schon interessanter, ein Mann, der Napoleon heimgeholt hatte von der schrecklichen, weit, weit entfernten Insel, der in seinem Haus, seinem Schlafzimmer gestanden hatte.
»Eine kleine Kapelle haben wir ihm gebaut, an Bord, direkt unter der Kommandobrücke. Da stand der Sarg drin. Und er war nie allein, nie. Tag und Nacht waren immer Männer drin und haben gebetet, die ganze Reise. Sogar den Prinzen von Joinville habe ich beten sehen, am Sarg des Kaisers!«
»Ich hab im letzten Karree gestanden, im letzten, jawohl«, lallte der betrunkene Veteran wieder dazwischen. »Rücken an Rücken mit ihm, Rücken an Rücken! Die haben ihn rausgezogen, mit Gewalt rausgeholt, seine Generäle. Sonst wären wir zusammen gefallen.«
Er fing an zu weinen, aber die Zuhörer höhnten nur: »Haben sie dich auch rausgezogen, die Generäle? Oder warum lebst du noch?«
»Ja, warum? Warum?«, heulte der Alte, und Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln, als er schrie: »Um eine Brut wie euch zu zeugen! Hunde, die mit dem Schwanz wedeln, wenn die Engländer ihnen einen alten Knochen schenken!«
»Das war’s, schmeißt ihn raus!«, sagte der Wirt. »Noch einen Schnaps und dann raus mit ihm!« Und wieder zu dem Matrosen gewandt: »Erzähl noch mal von der Insel, Louis! Wie ist die Insel?«
»Erzähl vom Schatz!«, unterbrachen ihn andere. »Von Napoleons Schatz. Habt ihr danach gesucht?«
Derbe Fäuste packten den Veteranen am Kragen, er verschüttete seinen letzten Schnaps auf der alten Uniform, die
er fünfundzwanzig Jahre lang auf einem Heuschober in der Picardie versteckt gehalten hatte für diesen Tag. Eine dralle junge Frau schenkte ihm neuen ein, goss auch etwas in seine zerbeulte Feldflasche.
»Komm, Väterchen, nimm noch einen mit auf den Weg!«
Der alte Mann kam nicht mehr weit in der kalten Nacht, so wie viele seiner Kameraden. Die letzten Soldaten der Großen Armee erfroren nicht in Russland. Sie erfroren in Paris, in den Straßen und Gassen rund um den Invalidendom.
Louis Vivés sah ihn dort liegen, auf dem Weg in die nächste Kneipe, wo er wieder seine Geschichte erzählen würde – von der Leiche, dem Sarg, der kleinen Kapelle, von der Insel und dem Schatz, den nie jemand gefunden hatte.
97.
»George, mein Liebling!«
»Halt den Mund! Bist du wahnsinnig?«
»Nein. Einsam, mein Seemännchen, einsam.«
»Hau ab! Ich will nicht, dass mich
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