Tod den alten Göttern
herumzurätseln führt zu nichts. Geh lieber hoch und weck den Mann. Die Sonne ist längst aufgegangen. Keiner
der anderen Gäste liegt noch im Bett. Alle haben gefrühstückt und sich auf den Weg gemacht. Ich bin nicht gewillt, hier den
ganzen Tag zu stehen und mich darum zu kümmern, dass der Brei nicht anbrennt. Muss schließlich noch Beeren pflücken.«
Mit einem Seufzer trennte sich Ferloga von seinem gemütlichen Platz am Feuer. Seine Frau Lassar hatte natürlich recht. Die
anderen Aufgaben konnten nicht ewig warten, und dass Gäste sich morgens beim Aufstehen so viel Zeit ließen, war fürwahr ungewöhnlich.
Auf einer Anhöhe der Straße, die von Cluain Meala, dem Honigfeld, fortführte, brachte Fidelma von Cashel ihr Pferd zum Stehen.
In der Ansiedlung am Ufer des breiten Flusses Siúr, nördlich von der Burg ihres Bruders gelegen, hatte sie übernachtet. Eine
ganze Woche lang war sie von Cashel fort gewesen und hatte die Zeit in der großen Abtei Lios Mhór weiter südlich jenseits
des Gebirgszuges Mhaoldomhnaigh zugebracht. Die nächtliche Ruhepause hatte ihr gut getan, doch trotzdem fühlte sie sich nach
der Woche anstrengender Arbeit erschöpft. Sie war Rechtsanwältin, eine
dálaigh
bei den Gerichtshöfen der fünf Königreiche von Éireann, und das im Range einer
anruth
, dem zweithöchsten Amtstitel im Rechtswesen des Landes. Ihr Rang gestattete ihr, nicht nur jemanden vor den Richtern zu vertreten,
sondern, wenn ausdrücklich gewünscht, Fälle in einem eigenständigen Verfahren anzuhören und abzuurteilen, sofern die Anwesenheit
eines ranghöheren |26| Richters nicht geboten war. Brehon Baithen, der Oberste Richter des Königreiches Muman, bat sie recht häufig, eine solche
Rolle zu übernehmen. Aufgaben dieser Art mochte sie am wenigsten.
In einem stickigen Gerichtssaal zu sitzen und sich die Beschwerden und Argumente derjenigen, die vor ihr erschienen waren,
anzuhören, fand sie reichlich ermüdend. Oft war es die reinste Zeitverschwendung, weil den Klägern nicht von vornherein klargemacht
worden war, dass ihre Forderungen jeder Rechtsgrundlage entbehrten und nur auf Kleinlichkeit oder Böswilligkeit zurückzuführen
waren. Dennoch war sie verpflichtet, geduldig zuzuhören und zu entscheiden, ob ein ordentliches Gerichtsverfahren nötig wurde
oder der Fall sogar vor einen höheren Richter gehörte. So nahm es nicht wunder, dass sie nach einer Woche in den Gerichtssälen
von Lios Mhór müde und auch verärgert war. Mit Freuden hatte sie sich auf ihr Pferd geschwungen und über die Berge auf den
Heimweg zu ihres Bruders königlicher Festung in Cashel gemacht.
Jetzt stand sie auf der Anhöhe und drehte sich im Sattel um, wollte sehen, ob ihr Begleiter hinter ihr war. Der junge Krieger,
der hinter ihr ritt, war Caol, Befehlshaber der Leibgarde ihres Bruders. Man hatte ihn auserkoren, ihr auf der Reise Schutz
zu gewähren. Als er sein Pferd neben ihr anhielt, wies sie lächelnd mit ausgestrecktem Arm nach vorn.
»Das dort ist Ráth na Drínne. Ich könnte gut und gern eine Erfrischung in Ferlogas Wirtshaus vertragen, ehe wir unseren Weg
nach Cashel fortsetzen.«
Caol neigte kurz den Kopf, verriet jedoch keinerlei Regung.
»Ganz nach deinem Belieben, Lady.« Jedermann, der Fidelma als Schwester von Colgú, König von Muman, kannte, benutzte die höfliche
Form der Anrede und nicht die für sie ebenfalls |27| gültige geistliche. »Wir sind ohne zu frühstücken von Cluain Meala aufgebrochen«, fügte er hinzu, »und auch ich hätte nichts
dagegen, etwas in den Magen zu bekommen.«
Fast klang es ein wenig vorwurfsvoll, denn er spielte auf Fidelmas Hast an, noch vor Tagesanbruch loszureiten. Wiederum wusste
er nur allzu gut, warum es Fidelma so eilig hatte, nach Cashel zurückzukehren. Eine Woche lang war sie von ihrem kleinen Sohn
Alchú getrennt gewesen, und für ihre Besorgnis als Mutter hatte Coal volles Verständnis. Dass sie dieses Mal zusätzlich besorgt
war, hatte seinen guten Grund: Ihr Mann Eadulf, der Angelsachse, hatte Cashel schon eine Woche zuvor verlassen und war im
Auftrag von Ségdae, dem Abt von Imleach und Hauptbischof von Muman, zur Abtei Ros Ailithir geritten. Wie lange er für seine
Mission brauchen würde, in der es um wichtige geistliche Fragen ging, stand in den Sternen. Es konnte Wochen dauern. Angesichts
dieser Umstände hatte Caol über Fidelmas auffallende Ungeduld und ihren raschen Stimmungswechsel in den
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