Tod den Unsterblichen
zu Zeit Blicke von Locille, dann nicht mehr. Er fragte nach ihr, fragte die Kellnerinnen, fragte die Ureinwohner, fragte oder genauer, erzählte von Locille, den Arm um Master Wahls schlaffe Schulter gelegt. Schon bald war er völlig betrunken, und er trank immer weiter. Er hatte Augenblicke der Klarheit. Master Carl hörte geduldig zu, als Cornut versuchte, die Molekularbewegung in einem Rye-and-ginger-ale zu demonstrieren; in einem seltsamen, einsamen Augenblick erkannte er, daß er in der Küche herumtorkelte und den kalten Kupferkesseln Locilles Namen zurief. Irgendwie, Gott weiß wie, befand er sich, schon zu sehr fortgeschrittener Stunde, im Aufzug des Mathe-Turms, und Egerd, der einen cremefarbenen Talar trug, versuchte, ihm in sein Zimmer zu helfen. Er wußte, daß er etwas zu Egerd sagte, das entweder grob oder grausam gewesen seih mußte, denn der Junge wandte sich von ihm ab und protestierte nicht, als Cornut seine Tür abschloß, aber er wußte nicht mehr, was. Hatte er Locille erwähnt? Wann nicht! Er plumpste kichernd auf sein Bett. Er hatte Locille tausendmal erwähnt, das wußte er, und streichelte das Kissen neben sich.
Er sank in Schlaf.
Er sank in Schlaf und hielt, einen Augenblick nüchtern, einen Augenblick entsetzt, inne, denn er wußte, daß er ganz allein vor der Schwelle des Schlafes stand. Aber er konnte nicht anhalten.
Er konnte nicht anhalten, weil er ein Molekül in einem Meer von Seifenlauge war und weil Master Carl ihn in Locilles Arme schleuderte.
Master Carl schleuderte ihn fort, weil Egerd ihn gegen Master Carl geschleudert hatte; Locille stieß ihn gegen St. Cyr, und tonlos kichernd schleuderte St. Cyr ihn einfach aus dem Krug, und er konnte nicht anhalten.
Er konnte nicht anhalten, weil St. Cyr zu ihm sagte: Du bist ein Molekül, du bist ein Molekül, betrunken und dem Zufall preisgegeben, ziellos, du bist ein betrunkenes Molekül, und du kannst nicht anhalten.
Er konnte nicht anhalten, obwohl die lauteste Stimme auf der Welt ihm zuschrie: DU KANNST NUR STERBEN, BETRUNKENES MOLEKÜL, DU KANNST STERBEN, ABER NICHT ANHALTEN.
Er konnte nicht anhalten, weil die Welt sich drehte und drehte. Er versuchte die Augen zu öffnen, um sie anzuhalten, aber sie hielt nicht an.
Er war ein Molekül.
Er sah, daß er ein Molekül war, und er sah, daß er nicht anhalten konnte.
Da – hielt das Molekül – an.
7
Egerd hämmerte fast fünf Minuten vergeblich gegen die verschlossene Tür und ging dann weg. Er hätte länger bleiben können, wollte aber nicht; er dachte gründlich darüber nach und kam zu dem Schluß, daß er erstens das getan hatte, was er sich zur Pflicht gemacht hatte – obwohl die Tatsache, daß Cornut Locille heiraten wollte, ihm diese Pflicht erschwerte, und daß er zweitens, wenn er zu spät kam, bereits zu spät gekommen war.
Eine knappe Stunde später wachte Cornut auf.
Er war noch am Leben, wie er interessiert feststellte.
Es war ein höchst seltsamer Traum gewesen. Eigentlich gar nicht wie ein Traum. Seine Nachmittagsvorlesung, in der Pogo Possum in schleppendem Tonfall Binsenwahrheiten über die Multiplikationen arithmetischer Reihen hoher ganzer Zahlen von sich geben würde, erschien ihm wesentlich fantastischer als diese Traumszene, in der er sich selber gesehen hatte, sternhagelvoll, eine Flasche in der Hand und gefangen in diesem nicht enden wollenden Brownschen Zickzack. Er war sich bewußt, daß ein Molekül nur anhalten konnte, wenn es starb, aber seltsamerweise war er nicht gestorben.
Er stand auf, zog sich an und ging hinaus.
Er hatte einen tüchtigen Kater, aber draußen fühlte er sich wesentlich besser. Es war ein strahlender Morgen, und er erinnerte sich deutlich, daß er um zwölf Uhr mit Locille verabredet war.
Seine Vormittagsvorlesung war aufgezeichnet worden, so daß er den Vormittag frei hatte. Er schlenderte ziellos auf dem Campus herum, an dem Stadion aus grünem Stahl und Glas vorbei, über die ausgedehnte Rasenfläche zur Brücke. Unter der Brücke duckte sich die Medizinische Fakultät. Er hatte die Brücke gern, ihren Bogen über die Bucht, die Art, wie sie einen Pfeiler auf die Insel stellte, auf der die Universität erbaut worden war. Er hatte diesen Pfeiler, der als Aussichtsturm diente, sehr gern.
Aus einem Impuls heraus fand er es an der Zeit, ganz nüchtern zu werden, und machte bei der Klinik halt, um seine Wachhaltetabletten wieder aufzufüllen. Die Klinik war zu dieser Stunde nicht besetzt, außer für Notfälle,
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