Tod einer Göttin (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
Wenn es auch kleinere gab.
Das kleinste dieser Fotos fiel völlig aus dem Rahmen. Ein Mädchen mit Zöpfen. Vielleicht vierzehn Jahre alt.
Zöpfe, aus dickem schwarzen Haar geflochten. Warum wurden Zöpfe so gerne mit blond assoziiert?
Das Bild gab etwas Trostloses an den Betrachter weiter. Kein Lächeln darin. Nur das goldene Kreuz, das das ernste Kind an einer Kette trug, hatte im Blitzlicht geblinkt.
Anders die anderen Fotografien. Ein Licht in ihnen, als sei immer Frühling gewesen.
Gustav, jünger als Vera ihn je gekannt hatte, wenn auch längst nicht mehr jung.
Dann diese Frau. In ihren Zwanzigern vermutlich.
Vera kannte Fotos von Jana Tempel. Auch den einen und anderen Film. Hier sah sie anders aus. Leuchtender als im besten Licht, das ihr je gesetzt worden war.
Gustav stand neben ihr. Wer hatte fotografiert?
Wie war ihre Privatsphäre gewahrt worden?
Da saßen sie in Morcote auf der Ufermauer und sahen über den Luganer See. Vera wusste, dass es Morcote war. Sie erkannte die Arkaden im Hintergrund, die Pontons im See.
Ihr Vater war mit ihr dorthin gereist.
Um sich zu erinnern? An Tage mit Jana Tempel?
Weil es schön ist in Morcote, dachte Vera.
Einige Stars der Nachkriegszeit hatten sich Häuser dort gebaut. Italienische Lebensart auf Schweizer Boden.
Im Haus von Caterina Valente hatten ihr Vater und sie einen Nachmittag mit Blick auf den See verbracht, und an einem anderen See, dem Lago Maggiore, einen Schriftsteller besucht. Robert Neumann. Ziemlich genau vierzig Jahre vor ihrem Besuch in Locarno waren seine Bücher von den Nazis verbrannt worden. Gustav hatte ihn viel später in England kennengelernt. Beinah Jahrgangsgenossen.
Was kam ihr alles in den Sinn bei diesen Bildern.
Vera zuckte zusammen, als es klingelte.
„Geh du mal“, rief Anni aus der Küche, „ich füttere gerade den Kleinen.“
Nick, der die Treppen hinauf keuchte. Warum nahm er nicht den Aufzug? Er neigte dazu, es sich schwer zu machen.
Beide beugten sie sich über die Fotografien.
„Das hier ist im Vier Jahreszeiten“, sagte Nick, dem das Vier Jahreszeiten gerade im Kopf war.
Tod eines Obdachlosen.
„Wo sind sie denn da?“, fragte Vera.
„Im Grill“, sagte Nick, „das ist das alte Grillrestaurant.“
„Woher weißt du das?“
Nick wusste nicht, woher er das wusste. Es musste ein déja vu aus einem anderen Leben sein. Das Vier Jahreszeiten gehörte kaum zu den Orten, die er kennengelernt hatte. Schon gar nicht in seiner Kindheit und Jugend.
„Wem lächeln sie da bloß immer in die Kamera?“, fragte Vera.
„Dem Hotelfotografen oder einem Journalisten.“
„Ich dachte, sie hätten es geheim halten wollen.“
„Doch wohl nur vor uns“, sagte Anni, die mit dem Kleinen auf dem Arm ins Zimmer kam. Noch immer rührte sich Eifersucht in ihr, wenn sie an Gustavs Liebesgeschichten dachte.
„Ihr ward da ja noch gar nicht in seinem Leben“, sagte Nick.
Anni warf einen Blick auf das Foto, das Nick in die Hand genommen hatte, um nach einem Vermerk auf der Rückseite zu suchen. Doch es gab keinen.
„Schildkrötensuppe hat er schon gar nicht gemocht“, sagte Anni, „das war auch nur so ein Modekram.“
„Wie kommst du auf Schildkrötensuppe?“, fragte Vera.
Anni deutete auf die Tässchen, die vor den beiden standen. Vera hatte gedacht, es sei Espresso darin.
„Was ist denn das?“, fragte Nick.
Vera runzelte die Stirn. „Jedenfalls kein anderer eleganter Ort dieser Welt“, sagte sie und blickte auf das Foto eines großen zweistöckigen Hauses, das trostlos und abbruchreif aussah.
Die Schnauze eines Autos hatte sich in das Bild geschoben und wollte gar nicht passen zur übrigen Kulisse.
„Ein Chevrolet“, sagte Nick, „ein Cabrio.“
„Vor einer Ruine aus dem Krieg“, sagte Vera.
„Ich wette, das ist ein Bel Air von 1958“, sagte Nick.
„Da waren wir doch schon im schönsten Wiederaufbau.“
„Ach Kind“, sagte Anni, „was glaubst du denn, wie lange es noch Trümmer gab. Bis in die siebziger Jahre hinein.“
Sie strich Nicholas über das Köpfchen. Er war gerade dabei, einzuschlafen, gesättigt von Möhrchen mit Butter.
„Habt ihr mal eine Lupe?“, fragte Nick.
Vera ging durch die Doppeltür in das angrenzende Zimmer, dort, wo der Schreibtisch stand. Vier große Silberrahmen darauf mit Fotografien von Gustav und Jef und einem Familienporträt: Nelly, Gustav, Vera.
Sie zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr eine Lupe. Die Fotografien der toten Frauen kamen ihr in
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