Tod eines Fremden
reichlich Schwarze-Johannisbeer-Marmelade auf seinem Toast. »Er hat am Royal Square gewohnt, gegenüber von der St. Peter's Church, aber die auf der Wache haben rumgefragt, und wir auch, da wir wussten, dass er nicht aus unserem Revier stammte. Der Sohn kam gestern Abend rüber und hat im Leichenschauhaus einen Blick auf ihn geworfen.« Er biss in den Toast. »Hat ihn sofort erkannt«, sagte er mit vollem Mund. »Hat ganz schön Stunk gemacht. Die Straßen seien nicht sicher für anständige Menschen, wohin es mit der Welt noch käme und so weiter. Sagte, er würde an seinen Abgeordneten schreiben.« Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Ich glaube, um seiner Familie willen wäre es klüger, so wenig wie möglich bekannt zu geben, zumindest im Augenblick«, antwortete sie. »Wenn mein Vater tot in Abel Smiths Bordell gefunden würde, würde ich das so wenig wie möglich rumerzählen. Na ja, auch, wenn man ihn dort lebend erwischen würde«, fügte sie hinzu.
Für einen winzigen Augenblick lächelte er sie an, dann war er wieder ernst. »Er hieß Nolan Baltimore«, sagte er. »Reicher Mann, Chef einer Eisenbahngesellschaft. Sein Sohn, Jarvis Baltimore, kam ins Leichenschauhaus. Er ist jetzt Chef der Gesellschaft und wird ordentlich Krach schlagen, wenn wir denjenigen, der seinen Vater auf dem Gewissen hat, nicht finden und aufhängen.«
Hester konnte sich eine Reaktion aus Schock, Schmerz und Empörung vorstellen, aber der junge Mr. Jarvis Baltimore würde sein Verhalten von heute noch bereuen. Was auch immer sein Vater in der Leather Lane getan hatte – es war äußerst unwahrscheinlich, dass seine Familie wollte, dass Freunde davon erfuhren. Da es um Mord ging, musste die Polizei alles unternehmen, um die Sache aufzuklären und möglichst jemanden vor Gericht zu stellen, aber die Familie Baltimore hätte es wohl vorgezogen, wenn das Ganze ein Geheimnis geblieben und er einfach auf tragische, unerklärliche Weise verschwunden wäre.
Aber sie hatten keine Wahl mehr. Es war nur ein vorüberziehender Gedanke, ein kurzer Augenblick des Mitleids für die Desillusionierung und die öffentliche Demütigung, das Lachen, das plötzlich verstummte, wenn sie einen Raum betraten, die geflüsterten Worte, die Einladungen, die ausblieben, die Freunde, die unerklärlicherweise zu beschäftigt waren, Besucher zu empfangen oder vorbeizuschauen. Nicht mit allem Geld in der Welt konnten sie das zurückkaufen, was sie jetzt verloren.
»Und was, wenn es überhaupt nichts mit den Frauen in Abel Smiths Haus zu tun hat?«, meinte sie. »Vielleicht ist ihm jemand in die Leather Lane gefolgt und hat die Gelegenheit einfach genutzt?«
Er starrte sie an, und in seiner Miene kämpften Hoffnung und Ungläubigkeit. »Gott steh uns bei, wenn das wahr ist!«, sagte er flüsternd. »Dann finden wir ihn nie. Könnte jeder gewesen sein!«
Hester sah, dass ihre Bemerkung nicht unbedingt hilfreich gewesen war. »Haben Sie irgendwelche Zeugen?«
Er zuckte leicht die Achseln. »Weiß nicht, wem man glauben kann. Der Sohn sagt, er sei ein aufrichtiger, anständiger Mensch gewesen, ein wichtiger Geschäftsmann, von allen respektiert, mit einer Menge mächtiger Freunde, die nach Gerechtigkeit verlangen und die Straßen von London gesäubert sehen wollen, damit anständige Menschen da rumlaufen können.«
»Natürlich.« Sie nickte. »Etwas anderes kann er kaum sagen. Er muss doch seine Mutter schützen.«
»Und seine Schwester«, fügte Hart hinzu. »Die noch nicht verheiratet ist, denn sie ist eine Miss Baltimore. Erhöht nicht gerade ihre Chancen, wenn rauskommt, dass ihr Vater Orte wie die Leather Lane aufgesucht hat.« Er runzelte die Stirn. »Seltsam, was? Ich meine, ein Mann, der selbst in solche Etablissements geht, weist eine junge Frau zurück, weil ihr Vater dasselbe tut. Ich begreife diese Leute nicht … jedenfalls nicht solche Herrschaften.«
»Nicht sein Vater, Constable, seine Mutter«, berichtigte sie ihn.
»Was?« Er stellte seinen leeren Becher auf den Tisch. »Ach ja, natürlich. Verstehe. Trotzdem hilft es uns nicht weiter. Weiß wirklich nicht, wo wir anfangen sollen, außer bei Abel Smith, und er versichert hoch und heilig, Baltimore sei nicht in seinem Haus umgebracht worden.«
»Was sagt der Polizeiarzt?«
»Weiß ich noch nicht. Gestorben ist er an den Knochenbrüchen und an inneren Blutungen, aber ich weiß nicht, ob er am Fuß von Abels Treppe gestorben ist oder ganz woanders. Wenn's die Treppe war, hätte ihn jeder
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