Tod eines Fremden
betete, dass sie Lockhart fanden und er rasch käme. Hierbei brauchte sie Hilfe.
Margaret reichte ihr eine Schere; die nahm sie und schnitt den Stoff durch, um die Haut freizulegen. »Verbandszeug«, sagte sie, ohne aufzuschauen. »Gerollt«, fügte sie hinzu. Sie hob das Kleid von der Wunde ab und sah rohes Fleisch, aus dem immer noch Blut rann, aber nicht pulsierend. Während sie erneut in kribbelnden Schweiß ausbrach, durchströmte sie Erleichterung. Vielleicht war es doch nur eine oberflächliche Wunde. Es war nicht das hervorschießende arterielle Blut, das sie gefürchtet hatte. Trotzdem konnte sie es sich nicht leisten, auf Lockhart zu warten. Kaum brachte sie die Worte heraus, aber dann bat sie um Tücher, Brandy, Nadel und Faden.
Hinter ihr fing eine der Frauen an zu weinen.
Während sie arbeitete, redete Hester die ganze Zeit. Das meiste war wahrscheinlich Unsinn, denn ihre Gedanken waren ganz bei dem blutigen Gewebe. Sie gab sich Mühe, es gleichmäßig und glatt zusammenzunähen, dabei keines der Gefäße, aus denen immer noch Blut sickerte, zu übersehen und der Frau nicht unnötigen Schmerz zu verursachen.
Schweigend reichte Margaret ihr immer neue Tücher und nahm diejenigen weg, die voll gesogen waren.
Wo war Lockhart? Warum kam er nicht? War er schon wieder betrunken, lag in einem fremden Bett, unter einem Tisch oder, noch schlimmer, in einem Rinnstein, wo ihn niemand erkennen, geschweige denn finden und nüchtern bekommen würde? Sie stieß einen leisen Fluch aus.
Sie wusste nicht mehr, wie lange es her war, dass Margaret die Frau weggeschickt hatte. Alles, was zählte, waren die Wunde und der Schmerz. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Tür zur Straße auf- und wieder zuging.
Dann war da plötzlich ein zweites Paar Hände, zart und stark und vor allem sauber. Hesters Rücken war so verspannt, dass er wehtat, als sie sich aufrichtete, und sie brauchte einen Augenblick, um ihren Blick auf den jungen Mann neben ihr einzustellen. Seine Hemdsärmel waren bis über die Ellenbogen aufgerollt, sein blondes Haar war über den Augenbrauen feucht, als hätte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt. Er schaute auf die Verletzung hinunter.
»Gute Arbeit«, sagte er anerkennend. »Sieht aus, als hätten Sie's geschafft.«
»Wo waren Sie?«, fragte sie leise, überwältigt vor Erleichterung, dass er da war, und wütend, dass er nicht eher gekommen war.
Wie zur Entschuldigung grinste er, zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Wunde zu. Er erforschte sie mit vorsichtigen, kundigen Berührungen, während er der Patientin immer mal wieder ins Gesicht schaute, um sich zu vergewissern, dass es ihr nicht schlechter ging.
Hester überlegte, ob sie sich für ihre unterschwellige Kritik bei ihm entschuldigen sollte, und kam zu dem Schluss, dass das jetzt keine Rolle spielte. Es würde nichts nützen, und sie bezahlte ihm nichts, also schuldete er ihr wohl auch nichts. Sie sah, dass Margaret sie anschaute, und bemerkte auch in ihren Augen Erleichterung.
Ihr war, als sei die Blutung gestillt. Sie reichte Lockhart die letzten in Balsam getränkten Verbände, und er legte sie an. Dann trat er zurück.
»Nicht schlecht«, sagte er ernst. »Wir müssen darauf achten, dass es sich nicht entzündet.« Er fragte nicht, was passiert war. Er wusste, dass er darauf keine Antwort bekommen würde. »Ein bisschen Fleischbrühe oder Sherry, falls Sie welchen haben. Nicht gleich, später. Sie wissen, was sonst noch nötig ist.«
Er hob die Schultern zu einem leichten Achselzucken und lächelte. »Wahrscheinlich besser als ich.«
Hester nickte. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorbei war, wurde sie von Müdigkeit überwältigt. Ihr Mund war trocken, und sie zitterte leicht. Margaret war zum Ofen gegangen, um heißes Wasser zu holen, damit sie sich das Blut abwaschen konnten und um Tee zu machen.
Hester wandte sich an die wartenden Frauen, die sie fragend anschauten. »Lassen Sie ihr Zeit«, sagte sie ruhig. »Wir können noch nichts sagen. Es ist zu früh.«
»Kann sie hier bleiben?«, fragte eine von ihnen. »Bitte, Miss! Er tut's nur wieder, wenn sie zurückgeht.«
»Was hat der bloß?« Schließlich ließ Hester ihre Wut doch heraus. »Er hätte sie umbringen können. Er muss verrückt sein – Sie sollten ihn loswerden. Haben Sie denn keine …«
»Es war nicht Bert!«, sagte eine andere Frau schnell. »Ich weiß das, weil ich ihn gesehen habe. Großer, nutzloser verdammter Esel!«
»Ein
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