Tod eines Fremden
dran.«
»Vielleicht finden sie raus, wer's war, und dann kehrt wieder Normalität ein«, meinte Hester. »Wie werden Sie gerufen?« Das war nicht dasselbe, wie nach ihrem Namen zu fragen. Ein Name war eine Sache der Identität; sie wollte nur etwas haben, um sie anzureden.
»Betty«, lautete die Antwort nach einem langen Schluck Kräutertee.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht ein Stück Brot und Käse möchten? Oder Toast?«
»Ja … Toast wäre gut. Danke.«
Hester machte zwei Scheiben und legte sie mit etwas Käse auf einen Teller. Betty wartete ab, bis Hester sich eine Scheibe genommen hatte, dann griff sie voller Befriedigung, fast gierig nach der anderen.
»Wette, seine Familie macht mächtig Druck«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Die Polypen schwirren rum, als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihnen her. Arme Kerle. Sind nicht schlecht, die meisten jedenfalls. Wissen auch, dass wir irgendwie über die Runden kommen müssen, und die Männer, die herkommen, tun's, weil sie's wollen. Geht niemanden sonst was an, wirklich.« Sie aß mehr als die Hälfte des Toasts, bevor sie weitersprach. »Nehm an, sie suchen was, was ihre Frauen ihnen nicht geben. Hab's nie rausgefunden, Gott sei Dank.«
Hester stand auf, um noch mehr Toast zu machen. Sie spießte das Brot auf eine Gabel und hielt es in die offene Ofen-klappe, bis die Hitze der Kohlen es knusprig braun geröstet hatte. Sie kehrte mit einer weiteren dicken Scheibe Käse an den Tisch zurück und gab sie Betty, die sie in schweigender Dankbarkeit nahm.
Hester war ein wenig neugierig. Sie war in zu viele von Monks Fällen verwickelt gewesen, als dass ihr das Schlussfolgern nicht zur zweiten Natur geworden wäre, aber sie war auch besorgt wegen der verheerenden Auswirkungen auf die Gegend. »Warum sollte eine Frau ihren Freier umbringen?«, fragte sie. »Es muss ihr doch bewusst gewesen sein, dass es so enden würde?«
Betty zuckte die Achseln. »Wer weiß? Selbst blau bis zur Bewusstlosigkeit müsste sie doch mehr Verstand haben, was?« Sie biss in den Toast und den Käse und redete mit vollem Mund weiter. »Ruft den Zorn Gottes auf uns alle hernieder, die dumme Kuh.« Aber in ihrer Stimme war mehr Resignation als Empörung, und sie wandte dem Essen ihre ganze Aufmerksamkeit zu und sagte nichts mehr.
Erst am frühen Morgen brachte Hester das Thema noch einmal zur Sprache. Sie hatte selbst in einem der Betten geschlafen und wurde von einem Klopfen an der Tür geweckt.
Sie stand auf und ließ Constable Hart ein. Er sah beunruhigt und unglücklich aus. Er schaute sich im Raum um und sah, dass nur ein Bett belegt war.
»Ruhig?«, fragte er kaum überrascht. Seine Augen wanderten unwillkürlich zum Ofen mit dem Wasserkessel.
»Ich mache mir eine Tasse Tee«, bemerkte Hester. »Möchten Sie auch welchen?«
Er quittierte ihr Taktgefühl mit einem Lächeln und nahm dankend an.
Als der Tee und der Toast fertig waren und sie einander am Tisch gegenübersaßen, fing er an zu reden. Draußen war es inzwischen hell geworden, aber es herrschte kaum Verkehr. Im Norden erhob sich schweigend und bedrohlich der riesige Block des Coldbath-Gefängnisses, die Sonne vermochte seinen Mauern kaum ihre Härte zu nehmen. In den Ritzen zwischen den Pflastersteinen auf der Straße hielt sich noch die Feuchtigkeit. Das Licht schimmerte auf einem Abfallhaufen im Rinnstein.
»Sie haben wohl nichts gehört?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Nur, dass überall in den Straßen Polizei ist und die Frauen kein nennenswertes Geschäft machen«, antwortete sie und trank einen Schluck Tee. »Ich vermute, das gilt auch für viele andere Gewerbe.«
Er lachte freudlos. »O ja! Einbrüche und Diebstähle sind ganz zurückgegangen! Es ist jetzt so verdammt sicher, hier herumzuspazieren, man könnte eine goldene Uhrkette an der Weste tragen und von Coldbath nach Pentonville gehen, ohne dass sie wegkäme! Die Stammkunden haben uns fast so gerne wie eine Dosis Pocken.«
»Dann sind sie vielleicht dabei behilflich«, meinte sie, »dass die Dinge bald wieder ihren gewohnten Gang gehen können. Wissen Sie schon, wer das Opfer ist?«
Er hob den Blick und sah sie ernst und besorgt an. »Ja. Sein Sohn machte sich Sorgen, weil sie einen wichtigen Geschäftstermin hatten und er am Abend nicht nach Hause kam. Offensichtlich war er nicht der Mann, der zu so was nicht erscheint, also haben sie sich ziemliche Sorgen gemacht und bei der örtlichen Polizeiwache nach Unfällen und so gefragt.« Er verteilte
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