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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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prächtige, die prachtvolle, prunkvolle Geneviève Winter, die ORF-Königin, die als einzige das Rettende ausgesprochen hat: Die Vielseitigkeit. Neben Geneviève Winter kommt mir sogar Dr. Sandra Rothroz klein vor, verschwindend klein. Der Beitrag der Doktorin: Genau so wie Sie, wenn Sie Hunger haben, zu ihrer Mutter gehen, kommen Sie zu uns, wenn Ihnen Zweifel an Ihrer Berufung kommen. Ich hätte sagen sollen: Deshalb komme ich nicht. Ich bin hier, weil Tonnen auf mich herabgestürzt sind und mich in jungen Jahren zum Greis machen. Trotz meiner Impotenz oder, genauer gesagt, Halbpotenz, möchte ich andauernd der Geneviève an ihren Bäckchen schmusen. Ich habe nur Angst, daß ich ihr zuviel an ihren süßen weichen Bäckchen, den pflaumenweichen sozusagen, herumschmusen will, dann sagt sie vielleicht auf wienerisch – ich weiß wirklich nicht, was die auf wienerisch dann sagt. Ich bring mich auch nicht um, wenn’s nicht klappt. Mich haben einfach die Skandinavierinnen gerettet. Eigentlich müßte ich jetzt schon schreiben. Als ich durch München ging wie durch einen wunderbaren Nebel, schoß es mir durch den Kopf: In einem Jahr fange ich an zu schreiben. Uff. Herr Dorn, Sie wollen ein Drama über Hannibals Alpenübergang, bitteschön, Lieferfrist vier Monate. Meine Vorbilder haben sich etabliert: Bernt Streiff, Rolf Hochhuth, Else Lasker-Schüler. Über allem und allen immer Dostojewski. Vom 12. bis zum 20. Lebensjahr habe ich alles gelesen. Dann die Tonnen. Mit dem Lesen ist es seitdem so eine Sache. Ich gehe lieber an der Isar spazieren. Unter der Großhesseloher Brücke habe ich meine tausend Gedichte verbrannt. Im Januar. Bei Nebel. Die Isarauen werden meiner zukünftigen Poesie Licht, Farbe und Klänge liefern. Ich bin so sicher wie noch nie: Eines Tages werde ich gar nicht mehr verstehen können, wie ich so lange Zeit nicht habe lesen können. Das heißt: mit maßloser Begeisterung lesen. Alles andere ist kein Lesen. Ich glaube, ich werde einmal sehr viel lesen. Schreiben vielleicht weniger. Sehr unwahrscheinlich, daß ich in Deutschland etwas veröffentliche. Ich spüre eine Art auf mich lauernde Unfreundlichkeit. Ehrl-Königs überhaupt nicht zu bestreitende Genialität ist seine Unbeeindruckbarkeit. Daraus sprießt unwillkürlich seine Verneinungskraft. Und die wird unwillkürlich für Urteilskraft gehalten. Zum Glück werde ich nie zu tun haben mit ihm. Also in Frankreich veröffentlichen. Frankreich, das Literaturland schlechthin. Kein Literatur-Schredder weit und breit. Uff. Beckenbauer würde vielleicht den Kopf schütteln. 300 Jahre alt möchte ich werden, sehen, ob das Bürgertum noch was schafft. Einen Goethe, bitte. Mit 20 zum Greis geworden. Der Philosophieprofessor, bei dem ich mich in die erste Reihe gesetzt habe: Man kann auch in jungen Jahren zum Greis werden. Mir passiert! Allerdings, eines Tages werde ich wieder jung werden. Und lesen können. Und dann eben auch schreiben. Lesen ohne Schreiben, das ergibt für mich keinen richtigen Sinn. Vielleicht lese ich deshalb jetzt noch nicht. Es wäre ein leeres, inhaltsloses, sinnloses Lesen. Wie viele Jahre hin- und hergestürmt zwischen Küche und Wohnzimmer. Nicht schlechtes Gewissen, Mutter, sondern psychomotorische Hast. Zieh deinen entsetzten Blick ein. Es ist wie Zahnweh, bloß auf einem anderen Nerv. Auf dem Nerv der Seele. Et in toto plurimus orbe legor. Mutter. Dein Sohn. Wie Ovid wird man Mani Mani nennen. Gleich hinter Heine. Ich schlage vor als Maßeinheit für Selbstbewußtsein 1 Mani einzuführen. Das Pfeifkonzert der Bayern-Fans beim Schalkefaul, dergleichen hält mich am Leben. Durch und durch geht mir die Stimme des Reporters: Und wieder eine unschöne Aktion des ansonsten so fairen Schalker Goalhüters. Wunderbar. Warum immer nach dem Ball treten, rief der Reporter, der ist so rund und klein, den Mann triffst du viel leichter. Die besten Fans hat Bayern , die schlimmsten Schalke . Und wenn dann noch der Schalker Mittelstürmer aus Bayern kommt! Aber meine Lieblingsbeschäftigung bleibt, schöne Fernsehansagerinnen anzuschauen. Ich habe einen kannibalischen Blick. Darum bin ich hier gelandet. Ich wollte der Prachtserscheinung in den Isarauen nichts tun. Sie trat als Geneviève Winter auf. Das Wunder geschah. Kommt auf mich zu. Daß ich Geneviève in allen Verkleidungen beziehungsweise Jahreszeiten kenne, kann man mir glauben. Juli. München blendet. Nach stundenlanger Wanderung an der Isar entlang, verlasse ich das Isarufer, gehe

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