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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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quer unter den Bäumen, erreiche fast die Straße, da kommt sie, Geneviève. Juli. Die Sonne bricht durch die hohen Bäume. Ich habe ihr doch nichts tun wollen. Mein kannibalischer Blick! Metaphorische Spielerei. Geneviève kommt auf mich zu, bleibt stehen, vor mir, kommt offenbar nicht vorbei an mir, also wenn ich da nicht zugreife, zärtlich nämlich, ja dann werde ich nie wieder jung. Es war doch Geneviève, die das Entscheidende gesagt hat: Die Vielseitigkeit. Jetzt ist es soweit, habe ich gedacht. Du bist kein Greis. Beweis es ihr. Geneviève hat diesen spöttischen Blick. Den schätze ich sehr. Und die diesen Blick ergänzenden Lippenbewegungen. Die Lippen beschäftigen sich mit einander, auch wenn die dunkelhaarige Geneviève nichts sagt. Aber dann sagte sie ja etwas. Das hätte sie nicht sagen sollenmüssendürfen. Ja, wer bist denn du scho! Das zu mir, nachdem sie mich jahrelang vom Fernsehschirm her angemacht hat. Und jetzt: Ja, wer bist denn du scho. Da habe ich es ihr doch zeigen müssen, wer ich bin: Mani Mani, die Hoffnung aller Hoffnungen! Also nichts wie hingelangt. Jetzt also nichts mehr mit der Königlichen, nichts mehr mit der Menterschwaige, ab in die Forensische, endlich nach Haar, wo schon der Pfleger eins eine Naturkatastrophe ist. Als Zwölfjähriger einmal vom Dreimeterbrett gesprungen. Einer süßen Dreizehnjährigen zuliebe. Als Nichtschwimmer. Ich hatte ihr gesagt, ich stünde am Anfang einer Agentenkarriere, deshalb müsse ich jetzt vom Dreimeterbrett springen. Das mit den schönen Frauen müßte noch genauer gesetzlich geregelt werden. Das liegt doch vollkommen im argen. Du kommst auf eine zu, sie auf dich, du siehst, es ist Geneviève, sie bleibt stehen, du nicht, also triffst du auf sie, ja, warum geht sie dann nicht an dir vorbei, da mußt du doch zugreifen. Versuchte Vergewaltigung. Daß ich dann getobt habe, glaube ich nicht. Das ist forensisch-psychiatrische Metaphysik. Nur wer gefährlich lebt, wird von den Frauen geschätzt. Sie wissen nie, wo Sie sich befinden, hat Sean Connery zu mir gesagt. Als ich so siebzehn, achtzehn war, sah ich mich an der Spitze eines möglicherweise verlorenen Haufens bewaffneter Arbeiter im Bürgerkrieg den Nockerberg hinaufziehen. Ich war schon früh bereit, für eine Sache zu sterben. Gestern schoß es mir durch den Kopf: Das Fernsehen macht dich krank. Ich will ja nicht behaupten, daß es nichts gibt, was Sie zu einem wertvollen Menschen gemacht hätte: Dr. Swoboda. D’outre-mer, schoß es mir durch den Kopf. Dostojewski, schoß es mir durch den Kopf. Außer Dostojewski ist alles Mist. Sogar Tolstoi ist nur einer, der vierspännig fährt und alle Tricks beherrscht. Dostojewski beherrscht nichts. Dostojewski wird beherrscht. Ihn wirft es ja in die Höhe. Ihn schleudert es in jede Tiefe. Außer Dostojewski nichts. Wenn Dostojewski mein Psychiater wäre, wäre ich sofort gesund. Verließe Haar mit Dostojewski. Per S-Bahn. Und wir setzten uns in den AugustinerGarten dicht am Haus, mit Blick über alle Tische und Bänke und Leute, äßen Weißwürste. Jeder zwei Paar. Mit süßem Senf. Und Brezeln. Dostojewski liebt nichts so sehr wie süßen Senf mit Weißwürsten und Brezeln. Plus Bier aus den riesigen Gläsern. Wir würden fröhlich hinschauen über all die Trinkenden, Schmausenden, Brüderlichschwesterlichen. Fröhlich aber stumm. Bloß nichts sagen jetzt. Dostojewski nickt. Meiden die Sprache, die Verführerin schlechthin. Wenn ich wieder lese, heißt das, ich setze die Dostojewski-Lektüre fort. Der Idiot . Myschkin will mein Bruder sein. Gerade Arbeiter achten große Dichter. Mein Jahr in der Fabrik hat’s mich gelehrt. Tolstoi ist der Ruhepunkt der Menschheit. Dostojewski der Unruhepunkt. Natürlich habe ich auch Norman Mailer gelesen Die Nackten und die Toten . Aber es wird der Zeitpunkt kommen, da werden sich alle Menschen, bei dem, was sie tun, fragen: Was würde Dostojewski dazu sagen. Sonst wird kein Elend ein Ende nehmen. Bevor ich anfange zu schreiben, muß ich prüfen, wie weit meine Sensibilität reicht. Und wie weit sie zuverlässig ist. Dostojewski vor Augen, sage ich: Ich bin vielleicht in einem Vok aufgewachsen, das nicht mein Volk ist. Nur wer gefährlich lebt, ist befugt, Frauen zu beanspruchen. Mein Freund Georg Meidner, seinerseits Künstler, hat bei meiner Hannelore den Eindruck erweckt, er lebe gefährlicher als ich. Schwupps, war Hannelore bei ihm. Hat sich ihm, wie man so sagt, hingegeben. Ich habe immer gesagt, wenn eines

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