Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
sich. Und ich, trotzig: Ja, ja. Lief weiter hin und her. Haßerfüllt denke ich an die Jungschwester in der Nussbaumstraße. Träume mich in die Rolle hinein, daß ich ihr nachgerufen hätte: Ja, ja, du superpsychologische Jungschwesterfotze. Das denkend, lächle ich. Sogar. Vielleicht das einzige Recht, das ich habe, zu lieben. Oder ich habe mich in diese extrem schwache Position ( Nur das Recht haben, zu lieben) hineinmanövriert, weil man in einer Situation vollkommener Schwäche und Wehrlosigkeit die Menschen in ihren Reaktionen auf mich besser erkennen kann. Als ich zuletzt mit Georg Meidner, seinerseits Künstler, im Dürnbräu saß, hatte ich plötzlich eine Ahnung, wie es sein kann, wenn ich merke, so, jetzt mußt du schreiben, sonst springst du aus dem Fenster. Und wäre in diesem Augenblick voll mit den Genitalien daran beteiligt gewesen. Brecht zu einer Jugendfreundin: Ich komme gleich nach Goethe. So kann man vielleicht Literatur definieren: Man schämt sich nicht, so beschämend es auch ist, etwas geschrieben zu haben. Geneviève Winter weiß noch immer nicht, daß ich ihretwegen in der forensischen Psychiatrie gelandet bin. Hannelore, als sie noch nicht von Georg Meidner, seinerseits Künstler, erobert war, ging mit mir durch die Faschings-Stadt. Sobald uns Betrunkene begegneten, rückte sie näher zu mir. Mir schoß es durch den Kopf: Du hast dich heute morgen nicht gewaschen. Auf dem Heimweg in einem Gäßchen, blieb sie stehen, ich auch, sie schlang ihre Arme um mich, preßte ihre Lippen an meine, schlug mit ihrem Unterkörper gegen den meinen. Mir schoß es durch den Kopf: Die Güte und Nachsicht der Frauen ist unendlich. Oder schafft das der Geschlechtstrieb allein? Ich wußte, kurz vor dem Geschlechtsakt (kein so tolles Wort) würde es mir durch den Kopf schießen, daß ich nichts davon haben werde. Also würde ich halt noch nach ihren Brüsten oder anderswohin greifen, mehr wie ein Doktor, bis die Vorstellung des Aneinanderklammerns, des möglichen Reizes nackter Brüste, des geschwollenen Glieds, des Eindringens völlig verschwindet. Im Traum einmal exemplarisch: Ich kurz vor dem Eindringen in sie, da, die Stimme ihrer Mutter: Hannelore, komm mir mal helfen. Was hätte ich davon, wenn ich wirklich drinsteckte? Samenablass, basta. Vielleicht alles nur ein Weglaufen vom Schriftstellerwerden. Misery acquaints a man with strange bedfellows. Oh du, mein Erzkollege Shakespeare. Folgen seelischer Haltungen im Körperlichen. Und umgekehrt. Wenn der Vater mich übers Knie legte, richtete sich der Penis auf, wurde hart. Als Kind in die Hose gepinkelt aus Angst, wenn der Vater auf mich zukam. Aber was würden die Psychologen sagen, wenn es für mich unmöglich ist, ohne meine Mutter zu leben? Dem Dr. Swoboda ins Gesicht: Nachher wollen Sie mit Ihrer psychologischen Aufmerksamkeit-auf-sich-ziehen-Theorie auch noch den Selbstmord erklären, ja?! Was ist wichtiger, dieser Erkenntnis zu frönen, also diesen und jenen Selbstmord voll und ganz aufzuklären, oder sich einzugestehen, daß diese Sichtweise den Blick für vieles andere, vielleicht wichtigere, versperrt? Dr. Swobodas Reaktion: der klassische physiognomische Psychiater- und Psychotherapeutenausdruck, gesenkte Lider, Mundwinkel nach unten gezogen. Ich zu ihm: Dieser Gesichtsausdruck, Mundwinkel nach unten, divahaft gesenkte Lider, entspricht weder dem Ernst meiner Lage noch dem Ernst der Welt. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen wollen. Es gibt Gründe, mir nicht helfen zu wollen. Aber zu bedenken geben muß ich, daß kein Psychotherapeut in der Nähe war, als ich als Kind aufgeschrieen habe, wenn meine Mutter nach einem Streit mit meinem Vater weinte und ich sie mit Küssen und Umarmungen verzweifelt bat, mit dem Weinen aufzuhören. Und ich habe immer noch Angst vor der Psychotherapie, weil das, was meine Mutter trotz all ihrem von mir verschuldeten Leid noch lachen läßt, an der psychotherapeutischen Praxis vorbeiläuft. Als ich aus der Nussbaumstraße entlassen war und mit der Straßenbahn heimfuhr, fiel ein Baby beim Hochheben des Kinderwagens aus dem Wagen heraus und wäre auf die Straße gefallen, wenn nicht eine alte Frau gerade noch zugegriffen hätte. Ich habe nicht zugegriffen, sondern die Hände vors Gesicht geschlagen und aufgeschrieen. Allein, bin ich nicht lächerlich. Georg Meidner, seinerseits Künstler und Eroberer Hannelores, verachtete mich, weil ich kaum eine Sportschau versäumte. Seit ich nicht mehr mit dem Vater ins Bayern

Weitere Kostenlose Bücher