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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Bäume glitten vorbei. Es wurde vollends dunkel. Daß der Zug langsamer geworden war, regte in mir eine altmodische Stimmung an. Die drängte mich dazu, die Nietzsche-Notiz aufzuschreiben, die sich seit ein paar Tagen in mir zu einer Genauigkeit entwickeln wollte, die sie nur auf dem Papier erreichen konnte. Ich war doch gestört worden. Hatte mich selber gründlich gestört. Wenn ich die IchStrecke von Seuse zu Nietzsche je beschreiben wollte, mußte ich ein genaues Gefühl von der Rolle haben, die Nietzsche spielen sollte. Seuse war mir unverlierbar. Dieses zum ersten Mal an sich denkende Ich im Selbstgespräch. Wie es sich erlebte. Empfindlich bis zur Unbrauchbarkeit. Jede Empfindung eine Blöße.

    Fünfhundert Jahre später kommt die Geschichte bei Nietzsche an, bei einem Ich, das nichts meh gelten lassen konnte, nur weil es bisher gegolten hatte. Also eine vor nichts Halt machende Prüfung der zudringlichen Überlieferung, des herrschsüchtigen Geschichtsandrangs. Was am meisten Herrschaft beanspruchte, wurde am gründlichsten außer Kraft gesetzt: Gott. Nietzsche hat, was er zu wissen kriegte – und das war doch zum Staunen viel –, auf sich angewendet. Getestet im Selbstversuch. Die Ergebnisse notiert. Keine einzige Einzelheit aus den
    geschichtlichen Zulieferungen überlebte diesen Test unbeschädigt. Weder Gott noch Teufel noch Nicht-Gott noch Nicht-Teufel. Ihm galt nichts, was es traditionsgemäß gelten sollte. Keiner vor ihm hat die überlieferten Werte so praxissüchtig durchgemustert. Was mir nicht mehr hilft, erkenne ich nicht an. Wenn mir etwas nicht mehr hilft, tue ich nicht traditionshörig so, als helfe es mir noch. Schluß mit dem Frieden, der aus der Routine der kulturüblichen Selbsttäuschung sprießt. Tafeln zerbrechen, Sprüche blamieren, Hoffnungen stürzen. Aus allem, was er kaputtgemacht und totgelacht hat, ergibt sich keine Richtung. Er zertrümmert die Schale, entblößt den Kern. Wir leben von nichts als von der Schönheit des sich selbst erlebenden Denkens.

    Ich nahm mir vor, irgendwo einen Satz über die Professoren und Politiker einzufügen, die Nietzsche in einen weltanschaulichen Dienst nehmen wollten; mit denen hat er nämlich soviel zu tun, wie der Blitz mit der Pfütze, in der er sich spiegelt.
    In Klais stieg ich aus. Der bemalte Bahnhof meinte es gut mit mir. Ich hatte gespürt, daß der Zug sich schwer tat mit dieser Aufwärtsstrecke. Eine Zeit lang machte ich die schöne Mühe mit. Genoß das Gefühl, das ich habe, wenn es aufwärts geht. In diesem Gefühl fand sich wahrscheinlich alles zusammen, was Höhe ausmacht. Was sie ist. Für das Atmen und das Denken gleichermaßen.
Wie lange bleiben Sie, fragte die freundliche Frau.
    Eigentlich wollte ich sagen: Ich danke Ihnen für diese Frage. So eine schöne Frage. Die verlangt von mir, sofort zu kalkulieren. Die Seiten. Die Zeit. Die Haltlosigkeit. Also? Drei Monate, sagte ich. Und weil sie fast erschrak vor Überraschung, sagte ich gleich im festesten Ton eines Mannes, der sich noch nie getäuscht hat: Länger ganz sicher nicht. Und legte meine Kreditkarte vor sie hin.
    Ich ging noch einmal hinunter und sagte, ob ich ein Zimmer ohne Fernsehapparat haben könnte. Hatten sie nicht, aber sie könnten den Apparat herausnehmen. Und das Telephon vielleicht auch, fragte ich und zeigte, daß ich wisse, das sei wirklich zuviel verlangt. Und sie: Sie habe noch jemanden im Haus, der meine Wünsche erfüllen werde. Das sagte sie so, daß deutlich wurde, wie komisch ihr diese Wünsche vorkamen. Ich bedankte mich so, daß sie spüren mußte, wie komisch es mir selber vorkomme, solche Wünsche zu haben und sie dann auch noch auszusprechen. Ich setzte mich in die Gaststube und bestellte, weil es nur noch kalt gab, eine Aufschnittplatte, dazu einen halben Liter Kalterer See. Die Tageszeitung nicht in die Hand zu nehmen, schaffte ich nicht. Auf der Titelseite, in der ersten Spalte, die Überschrift: Sir André . Ich mußte den dpaRest lesen. André Ehrl-König, der immer schon eine deutsch-britische Doppelstaatsbürgerschaft gehabt habe, sei jetzt von der Königin geadelt worden „For services to literature”, insbesondere für seinen Einsatz zur Förderung des Ansehens des englischen Kriminalromans. Die Verleihungszeremonie finde Anfang Dezember im Buckinghampalast statt. Der Geehrte habe wissen lassen, daß er drei Schwierigkeiten voraussehe, erstens das Niederknien vor der königlichen Person beim Ritterschlag, zweitens die Berührung

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