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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Marathonläufer sei er, hatte sie am Telephon gesagt. Daß sie geheiratet haben, hat sie nicht gesagt. Zwölf Kilometer täglich. Am Wochenende mindestens zwanzig. Sie war daran interessiert gewesen, mir diesen Jan zu erklären. Ich sollte teilnehmen. Ich konnte nicht. So wenig, wie sie aufhören konnte, mir ihren Jan verständlich zu machen. Vor einem Jahr war mir verkündet worden, daß der neue Chef um sie warb. Mehr vorerst nicht. Dann immer häufiger Firmennachrichten als persönliches Schicksal. Wenn Jan den Umsatz nicht steigerte, würden die in Oakland ihn genau so feuern, wie sie seine Vorgänger, wenn die den Umsatz nicht steigern konnten, gefeuert hatten. Sie, Olga, habe Jan gebeten, das Laufen einzuschränken. Wenigstens in diesem Probejahr. Aber ohne Laufen konnte der nicht leben. Olga hatte Angst, daß Jans Laufpensum auf irgend einem Weg nach Oakland gemeldet werden könnte. Ihr war klar, daß die in der Zentrale diesen Einsatz, dieses Engagement für nichts als Extremjogging für eine Kräftevergeudung zum Schaden der Firma halten mußten.
    Wenn ich jetzt geläutet hätte, hätte ich, falls Jan schon vom täglichen Lauf zurückgewesen wäre, die Geschichte noch einmal in seiner Gegenwart anhören müssen. Vielleicht mit der neuesten Wendung, daß Olga, falls Jan gefeuert werden sollte, den Mutterschaftsurlaub frühzeitig abbrechen würde, immer vorausgesetzt, die Amerikaner machten die Filiale nicht überhaupt zu. Das hätte Olga, ihren Philipp im Arm, erzählt, ohne auch nur eine Sekunde lang daran zu denken, daß ich das überhaupt nicht hören konnte. Und Jan säße dabei, ein zäher, hagerer, sehniger Typ mit begeisterungsbereitem Blick. Eigentlich ein Schweiger. Ein Versonnener. Einer, der es nicht nötig hat zu beweisen, daß er es besser weiß. Er gibt vielmehr anderen die Chance zu beweisen, daß sie es nicht besser wissen. Ein Chef eben. Ohne einen Hauch Vergewaltigung tut sie’s nicht. Das hatte ihr bei mir gefehlt. Ein schweigender Vergewaltiger. Einer, der sie, während er sie sorgfältig vergewaltigt, nicht anspricht, weder kommentierend noch animierend. War ich wahrsinnig gewesen, vorher, als ich gedacht hatte, ich könnte dahin? Wozu denn? Olga, bitte, bitte, wozu? Aber das spürte ich: die hörte mich nicht mehr. Spürte mich nicht mehr. Für die war ich Eswareinmal. Und sie für mich: Nichtsalsunerreichbaregegenwart. Sehnsucht …
    Mit dieser Jan-Olga-Szene schaffte ich den Marsch zum Hauptbahnhof. Zum Lauf ließ ich mich nicht hinreißen. Mich hätte dieser Jan, dem Olga sicher die rührenderen Details unserer Geschichte erzählt haben wird, ausgenommen das Alibi, mich hätte der behandelt, wie ein jüngerer Sportler einen älteren Sportler behandeln würde, wenn er den wissen lassen will, daß er der Jüngere, ihn, den Älteren, nur besiegt hat, weil er der Jüngere ist und der andere der Ältere. Fair, nichts als fair. Und das mit Bier. Er und ich. Olga hätte, da sie noch stillte, Paradies-Tee getrunken. Vielleicht auch Passionsfrucht-Tee.
    Das Gepäck geholt und ab, weil sich’s gerade so gab oder vielleicht doch, weil eine sich nicht zeigen wollende Tendenz es nahelegte, wenn nicht befahl, ab nach Innsbruck. Oder doch Richtung Innsbruck. So stand’s auf der Tafel. Ich stieg ein und schon fuhr der Zug ab. In der ersten Klasse, wo der Weltschmerz reist, war Platz. Viel Platz. Ich war allein. Alleinseinkönnen, kann verlangt werden. Von mir. Ich holte Seuse aus meinem Gepäck und schrieb, was ich schon lange vorhatte, aus einer Predigt ein Stück in heutiger Sprache nach:

    Er fing an, mit sich selber zu sprechen und zwar so: Schau nur hinein in dich, dann siehst du erst, merkst du erst, daß du mit allen deinen Übungen, die du dir selber verschrieben hast, immer noch nicht genug gelassen bist, die Widerwärtigkeit anderer zu ertragen. Immer noch ein erschrockenes Häslein, im Busch versteckt, erschreckt von jedem fallenden Blatt. Jeden Tag geh das so: was dir nicht paßt, erschreckt dich; begegnest du einem, der gegen dich ist, wirst du leichenblaß; sollst du eingreifen, haust du ab; sollst du dich zeigen als der, der du bist, verheimlichst du dich; lobt man dich, lachst du; gescholten, wirst du traurig. Also wirklich, dir fehlt es an der rechten Bildung.
    Und aufseufzend sah er zu Gott und sagte: Ach Gott, das also ist die Wahrheit. Und sagte: Wann endlich werde ich einmal ein gelassener Mensch sein.

    Draußen rasten naßschwarze Bäume vorbei. Dann ging es aufwärts. Die

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