Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
größere Anzahl davon.
Vera trat in Gerrys Flur und sah einen Schlüssel am Haken hängen. Jeder hätte ihn gesehen, der den Flur betrat.
»Steck ihn ein«, sagte Nick.
»Gerry«, rief Vera in die anderthalb Zimmer hinein.
Eine große Traurigkeit kam über sie. Konnte ihr der Junge denn verloren gehen? Zwischen einem Telefonat und dem elenden Dienst in dieser Gemeinde?
Nick hatte das große Licht angedreht. Im Flur. In der Küche.
»Diese alten Lichtschalter«, sagte er, »solche gab es bei uns zu Hause auch.«
Der kleine Koffer stand auf dem Küchentisch. Vera klappte den Deckel auf. Das Glitzertaukleid lag darin. Das Bolero aus Marabufedern. Die silbernen Schuhe.
Vera kannte die Puppe noch nicht. Doch Gerry hatte davon erzählt. Nachts um zwei am Küchentisch.
Die Puppe hatte lange blonde Plastikhaare. Nur noch eines ihrer Augen öffnete sich. Sie sah trostlos aus. Trotz des Ohrklips aus Strass, der ihr im Haar klemmte.
»Er hätte den Koffer doch mitgenommen«, sagte Vera. Sie drehte sich zu Nick um, der vor dem Steinspülbecken stand und einen Bilderrahmen aus hellem Holz in der Hand hielt.
»Das ist am Baumwall aufgenommen«, sagte Nick, »von da gehen Barkassen ab, die die Arbeiter zu den Werften bringen.« Er ging zu Vera, ihr das Bild zu zeigen.
Sechs Männer in einer Barkasse. Müde ältere Männer. Nur der zweite von hinten war jung. In seinen Zwanzigern.
Vera guckte auf das Bild. Eine schwarzweiße Fotografie.
Gestochen scharf. Wie Nick es gern hatte.
»Das wird es sein«, sagte sie.
»Was wird es sein?«
»Dann bringe ich dir ein Foto mit. Ich glaube, da ist mein Vater drauf«, sagte Vera. »Das hat Gerry in dem Telefonat gestern gesagt.« Sie nahm das Bild und setzte sich auf den einen Küchenstuhl. »Die Augen vielleicht«, sagte sie, »da ist eine Ähnlichkeit zu Gerry.«
Nick beugte sich über sie. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ich habe Gerry noch nie ohne getuschte Wimpern gesehen. Das Gesicht hier ist viel kantiger als seines. Warum hat er dir das Foto nicht schon längst gezeigt?«
»Ich stelle mir vor, dass er es gerade erst bekommen hat. Von diesem Elslein vielleicht;«
»Und dann stellt er es auf das Küchenbord?«
»Warum nicht«, sagte Vera, »das ist doch ein prominenter Platz in diesem Zimmer.« Sie stand auf und öffnete eine Tür, die aussah wie die eines Spindes. Doch dahinter stand Gerrys Bett. Ein gemachtes Bett. Pfirsichfarbene Wäsche.
»Es gibt gar kein Badezimmer«, sagte Vera, die eine weitere Tür geöffnet hatte. »Nur eine Toilette. Darum kam er gar nicht mehr aus dem Bad heraus bei uns.«
»Du kannst ihm einen Aufenthalt in einem deiner luxuriösen Schaumbäder anbieten«, sagte Nick, »als Entschuldigung für diesen Einbruch hier.«
Vera kam zurück in die Küche. »Du machst dir keine Sorgen um ihn?«, fragte sie.
»Doch«, sagte Nick. Fing er an, den Jungen gern zu haben, jetzt, wo er abhanden gekommen zu sein schien?
»Er hat sich Tee von Twinings gekauft«, sagte Vera, »und die Marmelade von James Keiller.«
»Hast du die Keramikbecher auf dem Abtropfbrett gesehen?«
Vera schüttelte den Kopf. Als sie die beiden Becher in die Hand nahm, kamen ihr Tränen in die Augen.
Auf dem einen stand Liebe . Auf dem anderen Glanz .
»Lass uns das Bild von der Barkasse mitnehmen«, sagte Nick, »wir legen ihm einen Zettel hin, dass du es hast.«
Vera dachte an den Stoffbeutel, der Gerry hier aus der Wohnung gestohlen worden war.
»Was soll er denken?«, fragte sie. »Dass wir durch Wände gehen? Wir erschrecken ihn doch bloß.«
»Wenn wir ihm das nicht erklären, wird er noch viel erschrockener sein.«
Vera nahm den Holzrahmen in die Hand.
Ich bringe dir ein Foto mit. Ich glaube, ist mein Vater drauf.
»Das kann doch nur sein Vater sein«, sagte sie und krauste die Stirn bei der Betrachtung des jungen Mannes mit dem blonden Haar.
»Hast du was zu schreiben?«, fragte Nick.
»Ich kann dir als Zettel die Wäschereirechnung anbieten«, sagte Vera, »einen Stift habe ich nicht.«
Nick zog die Schublade im Küchentisch auf.
Lose Bestecke. Ein Blechkasten. Nick öffnete ihn und fand Bleistiftstummel darin. »Lass mal«, sagte er, als Vera in ihrem Jackett suchte. Er hatte das Kuvert auf der Fensterbank gesehen. Aufgerissen. Leer.
Nick drehte es um. Gerhard Köpke. Der Straßenname war dick durchgestrichen. Ein Stempel darüber. Verzogen nach.
Die neue Adresse hatte jemand per Hand zugefügt.
»Eine kleine Gutmachung für unseren vergeblichen
Weitere Kostenlose Bücher