Tod im Dom
mir zu antworten. Vom Flur näherten sich schwere Schritte, und für einen Moment glaubte ich, Machetzky wäre von den Toten wieder auferstanden, um Rache an seinen Peinigern zu nehmen und uns zu retten, aber natürlich war es nicht Machetzky, und von Rettung konnte schon gar keine Rede sein.
Ich starrte den Mann an, der im Türrahmen stand, den drahtigen Mann mit den Silberhaaren, der mich so freundlich anlächelte, als wären wir gute alte Bekannte, und der Schock des unverhofften Wiedersehens machte mich für eine Sekunde völlig sprachlos.
»Hallo, Hendriks«, sagte Eduard Reutling. »Wie es scheint, werden Sie nun doch nicht das Erbe Ihres Onkels Schönbrunn antreten können.«
»Reutling!« stieß ich hervor. »Aber wieso…«
»Scheller«, unterbrach er. »Mein Name ist Scheller, nicht Reutling, Oberst Scheller vom Ministerium für Staatssicherheit.« Er lächelte schmerzlich. »Als es das Ministerium noch gab.«
»Scheller? Unmöglich – Machetzky sagte doch, daß Scheller…«
»… tot ist?« Er verzog belustigt den Mund. »Natürlich. Das heißt – offiziell. Die Konterrevolution hat unser aller Leben verändert. Viele von uns haben sich nach der Wende nach Moskau abgesetzt, um sich der Verfolgung durch den Klassenfeind zu entziehen. Ich muß zugeben, daß ich ebenfalls mit dem Gedanken gespielt habe, aber ich habe nicht meinen Eid auf die Partei und den Sozialismus geleistet, um beide im Moment der größten Gefahr zu verraten. Scheller mußte sterben, um in der DDR weiterleben zu können, unter falscher Identität, sicher vor den westdeutschen Behörden. Weiterleben – und weiterkämpfen, Hendriks.«
Scheller sprach freundlich, verbindlich, doch seine Augen straften seinen Plauderton Lügen. Es waren harte, kalte Augen, die Augen eines Fanatikers.
Er ließ sich in einen der schweren Sessel fallen, schlug die Beine übereinander und zündete eine Zigarette an.
»Schild und Schwert der Partei«, sagte er, »das war das Ministerium für Staatssicherheit. Und das wird es auch weiterhin sein. Oder glauben Sie im Ernst, wir hätten aufgegeben? Glauben Sie im Ernst, mit der Wiedervereinigung hätten wir resigniert, kapituliert?«
»Wir wußten es«, flüsterte Anja. »Wir wußten, daß die Stasi weitermachen würde. Terroristen. Ihr seid nichts als dreckige Terroristen!«
»Nennen Sie uns, wie Sie wollen«, gab Scheller gelassen zurück, »das kümmert uns nicht. Der Terror ist eine mächtige Waffe, und wir werden sie einsetzen, um unsere Ziele zu erreichen. Wir sind keine Einzelgänger, kein versprengtes Häuflein Unbelehrbarer. Es gibt viele ehemalige Mitarbeiter, die so denken wie wir. Sie werden verleumdet, geächtet, angespuckt. Man kürzt den Alten die Renten, nimmt den Jungen die Zukunft. Sie alle werden zu uns kommen und mit uns kämpfen. Was sollen sie auch sonst tun in diesem neuen Deutschland, in dem es keinen Platz mehr für sie gibt?«
»Und dafür brauchen Sie Geld«, stellte ich fest.
»Dafür brauchen wir Geld«, bestätigte Scheller. »Einiges haben wir in der Vor-Wende-Zeit zur Seite geschafft, aber eine Organisation, wie sie mir vorschwebt, braucht viel Geld, sehr viel Geld.«
»Das KoKo- Gold in Pastichs Spedition. Deshalb waren Sie hinter Pastich und den anderen her. Um mit dem KoKo- Gold Ihre Terroraktionen zu finanzieren.«
»Wir haben nur durch Zufall von dem Diebstahl erfahren. Bis vor kurzem gingen wir davon aus, daß der Geheimfonds der Abteilung Kommerzielle Koordinierung von den BRD-Behörden beschlagnahmt worden ist. Wir forschten nach und kamen Bollmann, Wernecke und Dorn auf die Schliche. Sie waren Verräter; sie wollten das Gold für ihre privaten Zwecke mißbrauchen.«
»Sie waren Verräter?« wiederholte ich. »Also sind sie auch tot?«
»Sie wurden ein paar Tage vor Pastich liquidiert – von Major Nordeck.« Scheller lächelte schmal. »Bollmann verriet vor seinem Tod, daß er sich mit Pastich im Dom treffen wollte. Wie Sie wissen, hatte Pastich Ärger mit der Polizei, und Bollmann hielt es nicht mehr für sicher, das Gold weiter in der Spedition zu lassen. Statt Bollmann kam der Major. Und natürlich Sie, Hendriks.«
Ich räusperte mich nervös. »Mir ist das genauso unangenehm gewesen wie dem Major, glauben Sie mir.«
»Was Sie nicht davon abgehalten hat, dem Major den Schließfachschlüssel zu stehlen und sich in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen. Ihr Fehler war, daß Sie nicht zur Polizei gegangen sind, sondern auf eigene Faust
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