Tod im Jungfernturm
Reserveschlüssel an seinem Platz über dem Türprosten im Waschhaus gefunden. Die Treppe hatte geknarrt, als sie sich voller Angst in ihr Zimmer geschlichen hatte. Als Vater die Tür aufmachte, lag sie steif und furchtsam unter der Decke, versuchte die Augen unter den dünnen Lidern still zu halten und ihre wilden Atemzüge zu beherrschen. Sie hatte zu Gott gebetet, daß Vater das Kleid nicht sehen und nicht an die feuchte Stelle fassen würde.
Und dieses Mal hatte sie Glück gehabt. Der Stoff war über einem Stuhl im Mädchenzimmer getrocknet. Als die Morgensonne die Blümchentapete beschien, war von dieser Nacht keine Spur mehr zu sehen. Aber es war nicht das letzte Liebestreffen auf der Wiese gewesen, ganz im Gegenteil. Ihre Sehnsucht schuf sich aus dem flüchtigen Wesen des Geliebten einen Gott, in dessen Gegenwart alles möglich war. Unter seinen Händen verwandelte sie sich in eine der Beneidenswerten jenseits der Grenze, in eine, die etwas taugte. Und das war alles, was sie damals wollte.
Wenn in dieser Sommernacht ihre Sehnsucht nach dem, was einmal gewesen war, sie nicht so stark heimgesucht hätte, dann wäre sie nicht Zeugin eines Mordes geworden. Aber die Lust, an eben diesem Abend den Ort zu sehen, an dem sie sich geliebt hatten, lenkte ihre Schritte zum Meer. Als die grauen Strandhäuschen ihr die Sicht freigaben, konnte sie unten am Wasser die schwarze Silhouette eines Mannes sehen. Sie legte die Hand über die Augen und blinzelte gegen die Sonne. Der ablandige Wind wehte ihr das Haar übers Gesicht, und eine Haarsträhne kitzelte sie an der Nase. Seine Bewegungen, als er seinen Kahn verließ und mit der schweren Zinkwanne im Schoß an Land schwankte, waren ihr wohlbekannt. Hering natürlich, niemals etwas anderes. Ab und zu eine Flunder, aber auch das immer seltener. Wilhelm blieb oben am Kiesweg stehen, stellte den Trog ab, nahm die Pfeife aus der Tasche und klopfte sie am Absatz aus. Gerade wollte sie ihren Mann rufen, als sie sah, daß er jemand anderen begrüßte. Dabei nickte er, indem er den Kopf in den Nacken warf, daß der Schirm seiner Mütze einem stoßenden Entenschnabel glich.
Sie blieb im Schatten. Der Wind riß an ihrem Körper und suchte sich seinen Weg in Jacke und Kleid. Sie hörte das Gespräch, das immer heftiger wurde, konnte aber die beiden nicht mehr sehen. Die Stimmen wurden leiser und unverständlicher und der Zorn immer größer. Die Worte machten ihr Angst, und sie kauerte sich, die Wange an der Hauswand, auf den Boden. Was hatte sie hier zu suchen? Die Tür zum Strandhäuschen schlug zu. Die Worte, die draußen blieben, ließen die Luft erzittern. Sie zogen sie an, obwohl sie, angeekelt vor Angst, in diesem Moment ahnte, was es bedeuten würde, wenn man sie entdeckte. Der Fischereianleger war menschenleer, die Touristen waren in ihre Unterkünfte gekrochen oder hatten sich aufgemacht, um sich in Visby zu vergnügen. Außer der Frau, die unter dem Fensterbrett zusammengekauert saß, gab es nur noch die beiden Männer, die Gier und den Tod.
Die Dunkelheit legte sich auf sie, als die Abendsonne im Meer versunken war und nur eine schmale Goldkante am Horizont hinterließ. Die Möwen schwiegen. Die Wellen glätteten sich. Da drin wurde eine Petroleumlampe angezündet, erst flackerte das Licht, dann wurde die Flamme ruhig. Die Männer standen einander gegenüber. Beide gleich groß, starrten sie sich in die Augen und maßen die Stärke des anderen. Die Kaumuskeln spielten, die Augen wurden schmal. Sie tanzten in langsamen kreisenden Bewegungen mit ausgebreiteten, leicht gebeugten Armen umeinander. Das hatte sie schon einmal gesehen, und es hatte keinen Sinn, dazwischen zu gehen. Wie wenn sich Kater bekämpfen und zu einem Knäuel aus Krallen und schneidend scharfen Zähnen werden, war es auch hier besser, sich fernzuhalten.
»Warum siehst du nur so verdammt dämlich aus!« Sie sah, wie sich Wilhelms Finger im Würgegriff um den Hals des anderen legten. Die unerwartete Verhöhnung, die durch die Luft fuhr, befreite ihn aus dem Griff.
»Du trägst die Verantwortung. Begreifst du, was du getan hast?« Das Flüstern drang genauso deutlich durch das Fenster wie die wütenden Rufe.
»Rede du mir nicht von Verantwortung!« Wilhelm schlug mit der Feuerzange zu, die er aus dem Holzkorb gezogen hatte. Aber dann war er einen Moment unaufmerksam, und ein kraftvoller Schlag traf sein Ziel. Wilhelm schwankte und fiel zu Boden. Dann wurde es still. Ohne nachzudenken stand sie auf und
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