Tod im Jungfernturm
Kristers Mutter ist überraschend krank geworden, es ist das Herz. Deshalb sind sie in Kronviken geblieben, sonst wären wir gemeinsam hierhergekommen.«
»Ist es denn klug, in den Ferien zu arbeiten?« fragte Vega und sah von Maria zu Hartman.
»Wenn man kein Geld hat, hat man keine andere Wahl. Wir haben ein altes Holzhaus gekauft, das große Summen verschlingt. Ich denke, das Wichtigste ist jetzt renoviert, aber für eine Reise ist nichts mehr übriggeblieben. Also habe ich eine Sommervertretung auf Gotland angenommen, damit meine Familie in der Zeit hierherkommen und Ferien machen kann.«
»Dann seid ihr also dieses Jahr vier Polizisten vom Festland. Wo wohnen denn die anderen?«
»Arvidsson und Ek haben irgendwo im Feriendorf Kneippbyn ein Häuschen gemietet«, sagte Hartman.
»Beim Pippi-Langstrumpf-Haus? Das ist doch nichts für erwachsene Männer!«
»Es gibt da eine Wasserrutsche.«
»Ach so, das erklärt alles.« Vega schob ihre Brille auf die Stirn, blinzelte gegen die Sonne und lehnte sich zurück, so daß die Gartenbank knackte. »Wieso arbeitet denn eine Frau bei der Polizei?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ Maria nicht aus den Augen.
Tomas Hartman wand sich gequält. Erst hatte er es ja eine großartige Idee gefunden, sich bei Vega einzumieten, aber jetzt war er da nicht mehr so sicher. Er hatte vergessen, wie geradeheraus und fast distanzlos sie in ihrer Neugier war. Er selbst war sie ja schon von Kindesbeinen an gewohnt, doch nun, da Maria neben ihm saß, sah er seine Tante mit anderen Augen. Aber es galt, das Beste aus der Situation zu machen, und Hartman empfand es deshalb als seine Pflicht, an Marias Stelle zu antworten.
»Ich denke, daß Frauen aus demselben Grund zur Polizei gehen wie Männer: der Glaube an die Gerechtigkeit, das Gefühl, etwas zu tun, das für andere gut ist, etwas Notwendiges.«
»Ich kann nicht für alle sprechen. Aber ich habe schon in der neunten Klasse beschlossen, zur Polizei zu gehen«, warf Maria ein.
»Und warum?« Vega hielt mit ihrer Untertasse auf halbem Weg zum Mund inne und lächelte zum ersten Mal. Sie hatte gerade nach einer kritischen Musterung beschlossen, diese Festlandpflanze zu mögen, auch wenn sie nicht sonderlich gut mit der Sprache zurechtkam.
»Wir sind nach Uppsala gezogen, als ich gerade ins Gymnasium kam. Ich war neu und schüchtern und habe komisch geredet. Die Mädchen in der Klasse, in die ich kam, waren für ihr Alter schon ziemlich weit, tranken an den Wochenenden Alkohol, rauchten heimlich und trafen sich mit Jungs. Ich hingegen war noch ziemlich kindlich. Was als Außenseitertum begann, wurde zu einem regelrechten Mobbing. Meine Mutter, die zu jener Zeit politisch aktiv war, hatte eine Reihe von kritischen Artikeln verfaßt, und ihre Ansichten waren nicht nach dem Geschmack aller Eltern der Klasse. Somit wurde ich zu einem willkommenen Opfer. Wenn man einen Erwachsenen mit den Schimpfworten bedenken würde, die man mir in der Schule nachgerufen hat, dann wäre das eine grobe Beleidigung. Doch für Kinder gelten andere Regeln. Würde ein Erwachsener in den Vorratskeller eingesperrt, dann wäre das Freiheitsberaubung. Würde man einem Erwachsenen mit Zigaretten Brandwunden zufügen oder das Haar mit dem Feuerzeug abbrennen, dann wäre das eindeutig Körperverletzung. Nun betraf das aber ein Kind und wurde deshalb als grober Scherz heruntergespielt. Ich bin nicht einmal zur Abschlußfeier nach der Neunten gegangen.«
»Das hast du mir nie erzählt.« Hartman legte seine große, breite Hand auf die von Maria, lehnte sich vor und sah ihr in die Augen.
»Nein, das habe ich nicht. Es ist auch nicht so einfach. Einmal habe ich in der großen Pause gesehen, wie sie einen kleinen Jungen auf die Toilette zerrten. Sie haben ihn gezwungen, sich auszuziehen. Er war nicht größer als mein kleiner Bruder, und er hat vor Scham geweint. Ich wurde so wahnsinnig wütend, daß in dem Moment alle Angst von mir wich. Ich habe sie in ihre grinsenden Gesichter geschlagen, habe getreten und geschrieen. In meiner blinden Wut habe ich auch aus Versehen die Lehrerin geschlagen, die kam, um nachzusehen, was los war. Sag nichts, flüsterte der kleine Junge, und ich sah seine Angst. Sag der Lehrerin nichts. Ich bekam einen Eintrag mit einem Brief an meine Eltern. Am nächsten Tag hatte ich einen Termin beim Rektor. Die Eltern des Jungen hatten sich gefragt, warum es ihm so schlecht ging.«
»Hast du deinen Eltern nie erzählt, wie schlimm
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