Tod im Palazzo
genug Sorgen haben, auch ohne Polizei. Ich dachte, wenn sie Sonntag zurückkommt, könnte ich vorher wenigstens mit ihr sprechen. Entschuldigung, Sie wollen lesen. Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von ihr, denn sie ist der anständigste, beste Mensch, den ich kenne. Entschuldigen Sie…«
Lieber W.
Habe heute vormittag bei Dir angerufen, aber Du warst nicht da oder hast noch geschlafen, und vielleicht war das auch ganz gut so – aus meiner Sicht jedenfalls. Du hättest sagen können: »Ich habe es Dir gleich gesagt.«
Zuerst mußte ich natürlich eine Wohnung finden. Ich habe es versucht – ich meine, eine andere Wohnung zu finden –, aber es wurde nichts daraus. Also: Man kann sich nicht von jemandem trennen, der sich dagegen wehrt. Es gehören zwei dazu. Wir haben uns ausgesprochen, aber er hat darin nur eine Entweder-Oder-Drohung meinerseits gesehen. Du zumindest weißt, daß das nicht stimmt. Ich wünschte, ich hätte mehr Erfahrung. Wir sind ja beide nicht sehr erfahren. Warum eigentlich? Jedenfalls konnte ich meinen Freundinnen nichts sagen, weil ich Angst hatte, sie würden mich auslachen. Nur Dir kann ich die Wahrheit sagen. Ich hänge so sehr an ihm, auf so unerklärliche Art und Weise, daß ich, um den Trennungsschmerz zu ertragen (theoretisch hatte ich mich ja von ihm getrennt), ungeheuer viel Unterstützung und Zuspruch brauchte und eine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte, und der einzige Mensch, der mir das geben konnte, war er. Jeden Abend, seit ich mich »von ihm getrennt« habe, ist er heruntergekommen und hat mich einfach gehalten und weinen lassen. Sonst nichts. Er wird um etwas anderes nicht bitten, aber auch nicht gehen, und ich weiß, er wird gewinnen. Das ist wahrscheinlich das falsche Wort, aber so ist es. Ich bin wie ein kleines Kind, das versucht, von seiner Mutter wegzulaufen. Von seinem Vater, wirst Du vielleicht sagen, Du glaubst bestimmt, daß er ein Vaterersatz ist, aber wenn ich so was brauche? Ich meine, Krücken sind eine Art Beinersatz, und wenn man ein Bein verloren hat, lernt man doch auch, mit ihnen umzugehen, nein? Ich weiß es nicht. In meinen dunkleren Momenten, wenn ich nur noch an Flucht denken konnte, habe ich mir vorgestellt, daß wir beide nach England zurückgehen, die Leute in unserem alten Haus davon überzeugen, es uns (zu einem Spottpreis, natürlich) zu verkaufen, so daß wir neu anfangen könnten. Anfangen womit? Die Probleme sind so verwickelt, außer Dir weiß niemand, was alles dazugehört, und deshalb kann ich es nur Dir erzählen. Ich höre sie schon sagen: »Was erwartest Du, wenn Du eine Affäre mit einem verheirateten Mann anfängst?«
Mich schaudert beim Gedanken an solche Schäbigkeiten.
Es ist nicht schäbig. Es ist keine »Affäre«. Sagen das alle? Wahrscheinlich. Jeder glaubt, sein Fall sieht anders aus. Ich wollte, ich wäre weniger naiv, aber es ist wohl eher eine Frage des Charakters als der Erfahrung. Ich weiß einfach, daß ich immer so sein werde. Habe heute morgen, als Du nicht da warst, meine übliche »Es-gibt-immer-jemanden-dem-es- schlechter-geht-als-dir«-Kur versucht. Habe Neri besucht. Jedesmal, wenn ich ihn sehe, rührt mich seine Zartheit und erstaunt mich sein Verstand noch mehr. Er flackert wie ein absterbendes Feuer. Er war gerade dabei, die Ode »An Phyllis« zu übersetzen, und hat sie mir geschenkt. Kleine, intensive Handschrift – mit Zweigen von Efeu werde ich dem glänzendes Haar binden – es erinnert ihn an mich, sagt er. Was würde er denken, fühlen, wenn er es wüßte? Wenn wir von diesem Haus wegkämen und ihn mitnehmen könnten. Dickensscher Unsinn. Er gehört zu diesem Haus und stirbt damit, und Buongianni erträgt es nicht, ihn zu sehen. Er erträgt es nicht, weil er Mitleid hat. Andernfalls… Wenn Du hier wärst, würdest Du mich zum Lachen bringen, ganz gleich, womit. Ist das das Englische in uns? Das ist das einzige, was Buongianni fehlt. Italiener lachen nicht über sich. Der arme Neri.
Dieses Haus und seine Mutter werden ihn noch umbringen, und obwohl ich das weiß, habe ich das Gefühl, daß er auf der Stelle sterben würde, wenn man ihn von hier wegbringen würde. Seit ich hier wohne, denke ich über den Tod nach. Ich glaube, du solltest wirklich kommen und mich zum Lachen bringen, ehe es zu spät ist. Bis dahin werde ich Mozart hören. Ich habe ein Ticket für den 12. gebucht, zum erstenmal in meinem Leben fliege ich mit einer Linienmaschine, aber ich möchte sofort zurückkommen können,
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