Tod im Tower: John Mackenzies erster Fall (German Edition)
unterrichtete ihn Mullins, dass Whittington ihn mit demselben Ziel am späten Nachmittag gebeten hatte, ihn und zwei seiner Beamten in Zivil an der Schlüsselzeremonie teilnehmen zu lassen.
„Wir wollen dem Superintendenten ja nicht auf die Nase binden, dass wir unsere eigenen Nachforschungen anstellen. Also werden wir Sie irgendwo verstecken, von wo Sie einen guten Überblick haben. Und ich weiß auch schon, wo.“
Mullins kannte nach fünfzehn Jahren Dienst im Tower alle Gebäude wie seine Westentasche und hatte ihn in der hereinbrechenden Dämmerung hinauf in den Bloody Tower geführt, in dem während der Rosenkriege im 15. Jahrhundert die jugendlichen Prinzen Edward und Richard gefangen gehalten worden waren. Zweihundert Jahre später waren die Gebeine zweier Jungen bei Grabungsarbeiten im Tower aufgetaucht. Bis heute herrscht Unklarheit darüber, ob die beiden Prinzen während der blutigen Auseinandersetzungen der Häuser Lancaster und York in ihrem Gefängnis ermordet wurden oder ihnen doch auf geheimnisvolle Art und Weise die Flucht gelungen war.
Der Lagerraum, der direkt unter den Zinnen des Bloody Towers lag, war perfekt für einen Beobachtungsposten geeignet, hatte er doch Fenster zur Water Lane und auf der entgegengesetzten Seite zum Innenhof. So konnte John die gesamte Schlüsselzeremonie verfolgen. Wenn sie nur endlich losginge!
Die Zeiger der Kirchenuhr schienen sich kaum vorwärts zu bewegen, während die Kälte trotz seiner dicken Kleidung förmlich in ihn hineinkroch. Sehnsüchtig dachte John an sein gemütliches Sofa und den spannenden Schmöker, der dort lag. Doc Hunter wäre kaum begeistert, könnte er ihn hier sehen.
„Spannen Sie die nächsten Tage mal so richtig aus. Am besten wäre es, Sie würden wegfahren. Vielleicht aufs Land, zu Ihren Eltern?“, hatte er John heute Morgen mit auf den Weg gegeben. Nachdem John dem Chief gesagt hatte, dass er ihm soweit es ihm irgend möglich war, mit internen Nachforschungen helfen würde, hatte diesen plötzlich ein schlechtes Gewissen geplagt.
„Mackenzie, ich bin wirklich äußerst dankbar, dass Sie das übernehmen, aber ist das mit Ihrem Gesundheitszustand auch vereinbar?“
„Vermutlich nicht“, hatte John grinsend geantwortet. „Aber ich möchte es trotzdem versuchen.“
Mit dem Glockenschlag 21.45 Uhr ging die Tür des Byward Towers auf und Michael Conners trat heraus, gefolgt von einer Besucherschar. John hob sein Fernglas an die Augen und ließ den Blick über die rund drei Dutzend Köpfe schweifen. Es waren jeden Abend an die vierzig Personen zur Schlüsselzeremonie zugelassen.
Ein Großteil der kostenlosen Eintrittskarten musste Monate im Voraus schriftlich bestellt werden. Spontane Besucher hatten keine Chance, noch eingelassen zu werden. Für Einladungen, die von einem der Beefeater ausgesprochen wurden, gab es ein kleines Kontingent zusätzlicher Plätze. Dies hatte es gestern Abend Richard Campbell ermöglicht, im Namen seines Vaters Parteifreunde in den Tower einzuladen. Die abendliche Abschließzeremonie war ein eindrucksvolles Erlebnis. Das Gefühl, in den historischen Mauern Zeuge eines Rituals zu sein, das seit dem Mittelalter in ununterbrochener Folge unverändert stattfand, bewegte die meisten Menschen und die Atmosphäre in der spärlich beleuchteten Water Lane tat ihr übriges. Doch heute Abend hatte eine andere Art von Erregung die Gruppe erfasst.
Die Blicke aller wanderten unablässig zum Verrätertor und auf den Gesichtern der meisten Touristen spiegelten sich wohlige Gruselschauer wider. Hätte nicht wie stets striktes Film- und Fotografierverbot geherrscht, wäre ein Blitzlichtgewitter über die Water Lane gezogen.
Im dämmrigen Licht dort unten hätte John seinen Cousin trotz des scharfen Fernglases fast nicht erkannt. Whittington hatte sich augenscheinlich alle Mühe gegeben, inkognito zu bleiben. Da er die Ermittlungen im spektakulärsten Mordfall des Jahres leitete, war sein Bild heute in der gesamten Regenbogenpresse zu sehen gewesen. Mit dem sorgfältig inszenierten Pressefoto, das ihn im perfekt geschnittenen Anzug und mit einem siegesgewissen Lächeln auf den Lippen zeigte, hatte er heute Abend kaum Ähnlichkeit. Wahrscheinlich hat er sich die ausgebeulten Hosen und die unförmige Winterjacke von seinem Sergeant ausgeliehen, mutmaßte John erheitert. Ein karierter Schal, der selbst aus der Entfernung aussah, als stammte er aus einem der Billigläden, die alles für ein Pfund verkauften,
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