Tod in Bordeaux
entwickelt. Er war mit Gastons Weinen bestens vertraut, hatte jeden Jahrgang des Pechant in allen Stadien seiner Entwicklung erlebt. Die Maschinen hatte er eigenhändig überholt, alles war für die Lese vorbereitet. Unsicher fühlte er sich nur in Bezug auf die Dauer der Gärung und die Maischezeit. Nach wie vielen Tagen hatte Gaston letztes Jahr den Pechant in die Eichenfässer umgefüllt?
Er würde es herausfinden, das war er Gaston schuldig -und Caroline auch. Er musste den Wein machen, niemand sonst wusste so genau Bescheid. Damit war die Entscheidung gefallen, und mit einem Mal fühlte er sich besser, konnte sich den Rechnungen, Mahnungen, Bestellungen und Angeboten zuwenden und den Papierberg abtragen. Immer wieder griff er zum Telefon und wählte Gastons Nummer, nein, jetzt nur noch die von Caroline. Würde er sich daran gewöhnen können? Die Ungewissheit ließ ihm keine Ruhe, und für einen Moment klammerte er sich an die Hoffnung, dass Gaston noch lebte. Aber der wäre ans Telefon gegangen und hätte seinen Weinberg jetzt unter keinen Umständen verlassen.
Martin rief sich die Abreise in Erinnerung. Hatte er etwas überhört, irgendeine Kleinigkeit, etwas übersehen, auf irgendeine Bemerkung nicht geachtet? Irrte er sich, oder war Gaston erleichtert gewesen, dass er den Haut-Bourton los war?
Das Telefon schrillte, Martin zuckte zusammen und griff erschrocken nach dem Hörer.
«Martin, bist du es?» Sofort erkannte er Carolines Stimme.
«Ja. Wo bist du?»
«Gott sei Dank, dass ich dich erreiche. Ich bin in Bordeaux ... Es ist etwas Furchtbares geschehen ...», sie schluchzte.
«Ich weiß.» Was sonst hätte er sagen können. «Mein herzliches Beileid» klang abgedroschen, Sätze wie «Es tut mir Leid ...» oder «Welch schrecklicher Verlust...» waren banal im Vergleich zu dem, was geschehen war. «Ich würde dich gern in den Arm nehmen. Wie geht es dir?», fragte er stattdessen.
«Woher weißt du ...»
«Von deinem Bruder. Als ich vorgestern anrief, war er am Telefon.»
«Mein Bruder? Du meinst Jean-Claude, Gastons Bruder. Der ist doch in Narbonne! Hat er mit dir telefoniert? Er kommt erst zur Beerdigung ...» Beide verstummten, verwundert und erschrocken.
«Aber - da war jemand am Telefon, der sagte, Gaston hätte einen tödlichen Unfall gehabt, im Lager ...»
«Das stimmt. Am Donnerstag, nachdem du weggefahren bist, mittags, bei LaCroix, drüben in Bordeaux.» Caroline schluchzte. «Ich weiß nicht, was er da wollte. Als ich zurückkam, ich hatte die Kinder in die Schule gebracht, haben wir noch diskutiert, weil er unbedingt wegfahren musste, er hat mir nicht gesagt, wohin, und er war ganz komisch. Du weißt, wie er ist, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat.
«Ja, ich weiß ...»
«Wäre er nur hier geblieben ...» Caroline schnäuzte sich und fuhr mit erstickter Stimme fort: «Alle sind entsetzt, fürchterlich schockiert, aber ich glaube, nur du kannst ermessen, was es wirklich bedeutet, was er mir bedeutet hat. Seine Eltern natürlich auch, sie sind auf dem Weg hierher. Der arme Gaston ...»
Stockend erzählte sie weiter. Sie war ins Krankenhaus gefahren, doch den Leichnam hatte man gleich in die Gerichtsmedizin gebracht. «Sie mussten die Todesursache untersuchen, hat man mir gesagt, wegen der Berufsgenossenschaft, und ich musste ihn identifizieren. O Martin, es war so schrecklich, er sah so fürchterlich aus ...» Als sie sich etwas beruhigt hatte, sprach sie weiter: «Sie reden jetzt über Unfallversicherung, Lebensversicherung, über Witwenrente und dass ich mich um alles kümmern muss, besonders wegen der Kinder.»
«Wie haben sie es aufgenommen?»
«Ach, die verstehen es nicht, sie brauchen Zeit. Sie denken, er kommt wieder. Du arbeitest, heute am Sonntag?»
«Es ist viel liegen geblieben. Wie weit sind die Trauben?»
«Sind alle noch dran. Es ist kälter geworden, die Reife dauert länger, aber nächste Woche müssen wir anfangen. Jean-Claude kommt zum Helfen. Leider kriegt er nur eine Woche Urlaub, er muss mit den Studenten in die Weinberge. Ganz Frankreich ist im Stress. Martin, was soll ich tun? Irgendetwas muss ich tun. Die Ernte ...» Sie weinte wieder.
«Wo bist du jetzt?» Martin fühlte sich hilflos, er wusste nicht, was er sagen sollte, und rettete sich zu seinem Thema: «Ich habe seit Donnerstag etliche Male angerufen. Da stimmt etwas nicht mit dem Wein, den er mir mitgegeben hat.»
«Davon habe ich keine Ahnung. Ich bin in Bordeaux, bei Freunden, du kennst
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