Tod in Innsbruck
es, aber nicht auf unserer Seite.« Dr. Eberharter fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ihre Schwester hatte vermutlich einen Herzfehler. Genaueres wird die Obduktion klären.«
»Einen Herzfehler? Aber …«
»Ich vermute, sie litt an einer Mitralstenose. Das ist eine …«
»Eine Verengung im Bereich der Mitralklappe?«, riet Vera.
»Richtig. In seltenen Fällen angeboren, weit häufiger eine Spätfolge eines rheumatischen Fiebers. Wissen Sie, ob Ihre Schwester als Kind so eine Erkrankung durchgemacht hat?«
»Möglich, ja. Ich erinnere mich, dass sie als Dreijährige einmal sehr krank war.«
»Das könnte hinkommen. Die Latenzzeit beträgt zehn bis zwanzig Jahre.«
»Aber sie hat nie über Herzprobleme geklagt.«
»In Fällen geringfügiger Mitralstenosen haben die Patienten oft lebenslang keinerlei Beschwerden.« Der Doktor suchte Veras Blick und sah sie forschend an. Oder war es vorwurfsvoll? »In Kombination mit exzessiver sportlicher Betätigung und Mangelernährung kann jedoch auch ein geringfügiger Klappenfehler zum Tod führen.«
Vera sprang auf. Ihre Kaffeetasse fiel zu Boden und zerbarst in tausend Scherben. Die braune Brühe spritzte auf die Hose des Arztes, auf seine Schuhe. Er tat, als bemerkte er es nicht.
»Mangelernährung? Was wollen Sie damit sagen?«
»Auf den ersten Blick hätte ich bei ihrer Schwester eine beginnende Anorexie diagnostiziert, ohne ihr Gewicht und den BMI zu kennen.«
Hitze flutete Veras Gesicht. »Isa hat abgenommen, ja. Aber sie war nicht magersüchtig!« Vera verdrängte das Bild des schmächtigen Körpers im Verabschiedungszimmer. »Das wäre mir doch …«
»Aufgefallen? Sie hat es wohl unter drei Pulloverschichten verborgen, wie so viele ihrer Leidensgenossinnen. Im Badeanzug war es überdeutlich.« Er räusperte sich. »Und an ihrem Essverhalten hätten Sie es bemerken müssen.«
Es war, als hätte er ein Messer in Veras Magengrube gestoßen. Eine Welle von Übelkeit spülte über sie hinweg. Sie wankte auf den Ausgang zu, riss die Tür auf, stolperte ins Freie. In ihrem Kopf hallte das Echo seiner Worte: »… bemerken müssen … hätten Sie es bemerken müssen … hätten Sie …«
Vera lief los, hinaus aus dem Klinikareal, ohne Ziel, nur weg. Natürlich war ihr aufgefallen, dass Isa abgenommen hatte. Sie hatte ihr noch dazu gratuliert!
Als sie Isa das letzte Mal sah – war das tatsächlich schon vier Monate her? – wirkte sie stiller als sonst. Ernster. Sie wurde eben erwachsen. Auch ihren Babyspeck hatte sie eingebüßt. Vera, die seit eh und je dünn war, ohne zu hungern, hatte sich nichts dabei gedacht.
Mit Riesenschritten ging sie auf dem Radweg innabwärts. Das Klingeln und die Flüche der Radfahrer beachtete sie nicht. Sie hatte immer noch die Worte des Arztes im Ohr: »… hätten Sie es bemerken müssen … hätten Sie …«
Bald brannten ihre Fußsohlen. Sie zog die High Heels aus und rannte barfuß weiter.
Vor drei Wochen hatte sie zuletzt mit Isa telefoniert. Sie war ihr einsilbig vorgekommen.
»Ist alles okay bei dir?«, hatte Vera gefragt.
»Alles im grünen Bereich«, war die Antwort gewesen. Und sie hatte sich allzu gern damit zufriedengegeben.
Ich habe mich zu wenig gekümmert.
Zwischen Hofburg und Kongresshaus gelangte sie zum Rennweg. Vor dem Landestheater parkte ein Fiaker. Das Pferd, ein Apfelschimmel, sah klapprig aus, und ein beunruhigendes Zittern lief über seine Flanken.
»Stadtrundfahrt gefällig?«, fragte der Alte auf dem Kutschbock und lüftete seinen Trachtenhut.
Vera schüttelte den Kopf. Der Gestank nach Pferdepisse ließ sie schneller gehen. Kurz darauf fand sie sich im Hofgarten wieder.
Isa war gern hierhergekommen, sofern Schule, Hausaufgaben und das stundenlange Klavierüben ihr Zeit dazu gelassen hatten.
Die alten Bäume, die die Wege säumten, sahen in der Dämmerung wie hünenhafte Wächter aus einer anderen Welt aus.
Vera setzte sich auf eine Bank zu Füßen einer mächtigen Platane. Die weißfleckige Rinde löste sich in schimmernden Plättchen ab. Sie bog den Kopf zurück, bis sie in die Krone des Baumes sehen konnte. Unter dem dichten Blätterdach fühlte sie sich geborgen. Das Gedankenkarussell kam langsam zum Stillstand. Nur das Schuldgefühl blieb und schnürte ihr die Brust zusammen.
Sie hätte öfter nach Innsbruck fahren müssen. Aber ihre eigenen Probleme, das Studium, der Sport und das Singen waren ihr wichtiger gewesen.
Ich habe Isa im Stich gelassen.
Sie umklammerte
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