Tod in Kreuzberg
gerade den Taxihof verlassen und fuhr mit dem Daimler noch in der Manitiusstraße, als er auf Radio 1 hörte, in Pankow sei ein Mann erhängt aufgefunden worden. Es sei ein Abschiedsbrief gefunden worden, die Polizei gehe von Selbstmord aus. Das war der Ingenieur, Matti wusste es sofort. Es traf ihn in der Magengrube. Er fuhr an den Straßenrand und hielt an. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte, während er das Taxi im Kriechgang umkreiste. Er hätte es wissen müssen. Er hätte genauer zuhören müssen, die Verzweiflung hatte mehr im Ton gelegen als in dem, was der Mann sagte. Er hätte erkennen müssen, dass der Ingenieur am Ende war. Aber warum hatte er sich nach Pankow fahren lassen? Warum dieser Umstand? Vielleicht hatte er dort glückliche Zeiten erlebt und gehofft, die Erinnerung würde ihm helfen? Vielleicht wollte er sich verabschieden von einem Ort, wo er einen Menschen getroffen, geliebt, gehasst hatte. Wohin gehen Menschen, bevor sie sich umbringen? An was denken sie?
Er konnte jetzt nicht weiterfahren und kehrte zurück. Ülcan hockte in seiner Räucherkammer und glotzte ihn an.
»Bin krank«, sagte Matti. Er fasste sich an den Bauch.
Merkwürdigerweise sagte Ülcan nichts, sondern sog nur lange an seiner Zigarette und wandte sich dann dem großen Heft zu, in dem er das aufschrieb, was er seine Buchhaltung nannte und was ihn wahrscheinlich irgendwann auf die Anklagebank bringen würde. Die letzte Betriebsprüfung hatte in einem Fiasko geendet, Ülcan bedrohte den eingeschüchterten Finanzbeamten mit Aschenbecher und Brieföffner, brüllte ihn an, dass es noch auf der Straße zu hören war, beschimpfte ihn als Rassisten, Türkenfeind, Ungläubigen, Nazi, Sarrazin-Gläubigen, Parasiten – und grinste breit, als er den Feind vertrieben hatte, schenkte sich einen Kaffee ein, steckte sich eine Zigarette in den Mund und lehnte sich gemütlich zurück.
Als Matti in die Okerstraße kam, unterhielt sich Twiggy in der Küche mit Robbi. Robbi saß auf Twiggys Schoß und lauschte. Er nickte, schüttelte den Kopf und maunzte. Allerdings weigerte er sich immer noch, sein Schweigegelübde zu brechen. Doch als Zuhörer war der Kater großartig.
Matti nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte auch eine geöffnete Flasche vor Twiggy ab.
»Was ist los?«, fragte der, nachdem er Matti angeblickt hatte.
Matti winkte ab. »Ein Ingenieur …«
Twiggy blickte ihn erstaunt an und wandte sich wieder Robbi zu. »Sollen wir dem Baustadtrat auf die Pelle rücken. Ihm die Fotos zeigen und schauen, wie er reagiert?«
Robbi guckte nachdenklich.
»Oder soll Dornröschen das in der Stadtteilzeitung veröffentlichen?«
Robbi war sich nicht schlüssig.
Dornröschen stand im Türrahmen. »Wenn wir das raushauen, gibt’s zwar Radau, aber wir kommen nicht weiter. Die Typen treten zurück und tauchen ab. Und wir haben nichts mehr in der Hand gegen sie. Ich bin für Erpressen.« Sie blickte zu Matti. »Was ist?«
Matti erzählte vom Ingenieur. Dornröschen stellte sich hinter ihn und strich ihm übers Haar. »Ist keine leichte Zeit«, sagte sie eher zu sich selbst.
Matti überlegte, was sie meinte. Irgendwas bedrückte Dornröschen, aber er wollte sie jetzt nicht fragen. Es war sowieso alles Mist. »Wie machen wir’s?«
»Wir schreiben den beiden Jungs von der Stadt einen netten Brief und legen ein paar Fotos bei«, sagte Dornröschen.
Twiggy, Matti und Robbi überlegten. »Wenn die einem dann die Killer …«
»Tja, habt ihr einen besseren Vorschlag?«, fragte Dornröschen schnippisch. »Und was ich noch fragen wollte …« Sie zog ein durchsichtiges Plastiktütchen aus der Tasche, darin weißgraues Pulver. »Lag im Flur, unter der Kommode. Was ist das?«, fragte sie streng.
Twiggy sprang auf, Robbi jaulte los und floh, während Twiggy den Beutel an sich riss. »Das gehört mir!«, schnauzte er.
»Koks ist das hoffentlich nicht?«, sagte Dornröschen.
»Quatsch.« Er steckte das Päckchen ein und setzte sich wieder, mit glänzender Stirn.
Die Reaktion auf den Brief folgte am übernächsten Morgen. Das Telefon klingelte, Matti nahm ab.
»Dr. Spiel.«
»Ja?«
»Wir müssen reden. Heute noch.«
»Klar«, sagte Matti. »Wenn Sie auch am Samstag arbeiten wollen.«
Der Typ räusperte sich. »Kennen Sie den Stichkanal in Lichterfelde?«
»Ja.«
»Am Ende ist ein Baugrundstück …«
»Dort werden wir uns nicht treffen«, sagte Matti. Er hatte mal einen Mann dorthin gefahren, eine finstere Ecke.
»Dort
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