Tod in Lissabon
man Stalingrad hält, hat man Stalin bei seinen stählernen Eiern.«
Ihr Gespräch wandte sich dem Wolfram zu, und Lehrer wirkte lustlos und desinteressiert. Nicht einmal die jüngste Schmuggelaktion, bei der Felsen in Lissabon zweihundert Tonnen Wolfram in Eisenbahnwaggons verladen und sie mit den entsprechenden Frachtpapieren als Braunstein quer durchs Land bis an die Grenze verschickt hatte, ohne dass der Zoll auch nur einen Blick hineingetan hatte, konnte seine Stimmung heben.
Lehrer raffte sich zu ein paar halbherzigen Fragen über die Bank auf, die außer der Gewährung von Krediten an einige Schürfgesellschaften nahe der spanischen Grenze noch nicht viel geleistet hatte.
Als Felsen seinen Bericht beendet hatte, war es früher Abend, doch bevor Lehrer ihn entließ, erhob sich der Obergruppenführer unvermittelt von seinem Stuhl, machte ein paar ungelenke Schritte und hockte sich auf die Schreibtischkante.
»Wir haben ein besonderes Übereinkommen, Sie und ich«, sagte er plötzlich ernst. »Als ich Sie von Ihrer Fabrik in Berlin abgezogen habe, habe ich Ihnen versprochen, dass Sie für Ihre Arbeit angemessen entlohnt werden würden. Möglicherweise sieht Ihr Auftrag im kommenden Jahr schon ganz anders aus. Sie haben zwar Erfahrung in dieser Aufgabe, aber sie wird ihrem Wesen nach trotzdem anders sein. Sie müssen mir vertrauen. Sie dürfen nicht erschrecken, wenn ich Ihnen sage, dass wir zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon den Anfang vom Ende erreicht haben.«
»Poser hat erwähnt, dass sich unsere Produktionskapazität seit Speers Beförderung zum Rüstungsminister Anfang des Jahres massiv erhöht hat, und das habe ich auch gespürt. Der Druck, noch mehr Wolfram zu liefern, war enorm …«
»Das stimmt«, sagte Lehrer und winkte milde ab, »aber meine Füße sagen mir, dass dies den Todeskampf nur in die Länge ziehen wird. Und meine Füße irren sich nie.«
Beide Männer starrten auf Lehrers lederumhülltes Elend.
Es war sechs Uhr, und ein eiskalter Wind wehte wie direkt aus der ewigen finnischen Finsternis. Der Wagen kroch wie ein halb blindes Geschöpf durch die Dunkelheit. Felsen saß verwirrt auf der Rückbank. Wusste Lehrer, wovon er sprach? Der Mann hatte sich immer für einen Visionär gehalten, doch ließ sich die Zukunft des Dritten Reiches tatsächlich auf die düsteren Vorahnungen eines übergewichtigen und fußkranken Obergruppenführers reduzieren? Konnte für die große deutsche Armee, die durch Europa gefegt war, Russland bis zum Kaukasus zerschlagen und schon in den Vororten Moskaus gestanden hatte, mit dem Verlust einer einzigen Stadt wirklich alles vorbei sein? Felsen schirmte seine brennende Zigarette mit der Hand ab, betrachtete die Zerstörung in Steglitz, Schöneberg und Wilmersdorf und dachte an etwas, das ihm Poser Anfang Juni erzählt hatte, obwohl er es damals nicht hatte glauben wollen. In der Nacht des 30. Mai sollten Bomber der Alliierten in gut eineinhalb Stunden mehr als zweitausend Tonnen Bomben auf die Stadt geworfen haben. Als Poser ihm ein paar Tage später davon berichtet hatte, stand Berlin noch immer in Flammen. Felsen hatte ihm nicht recht geglaubt und versucht, sich an dem durchgedrehten Preußen vorbei aus dem Zimmer zu drängen, doch Poser hatte mit seiner Prothese Felsens Ellbogen gepackt und ihm leise ins Ohr geflüstert: »Ich habe eine Schätzung der Schäden gelesen, die reale, nicht Goebbels Version. Und jetzt gehen Sie, und finden Sie Ihr Wolfram. Wir werden jedes einzelne Kilo brauchen.«
Als sie über die Potsdamer Straße den Süden Berlins erreichten, bat Felsen den Fahrer, weiterzufahren und links in die Kurfürstenstraße einzubiegen. Mit den Trümmerhaufen zu beiden Seiten sowie den zerstörten und ausgebrannten Häusern war die Straße nicht wieder zu erkennen, doch Evas Haus schien intakt. Er lieh sich vom Fahrer eine Taschenlampe und ging durch die Kopfsteinpflaster-Gasse zum Hinterhof des Gebäudes. Das Tor ließ sich wegen der Trümmer nur gerade so weit öffnen, dass er über einen schmalen Pfad zur Hintertür des Hauses gelangte, dessen Rückfront so zerstört war, dass er in Evas Küche blicken konnte.
Das Gebäude war offensichtlich unbewohnbar, doch als er gerade den Rückweg antreten wollte, hörte er eine dünne Stimme, die ein absurd fröhliches Kinderlied aus seiner Heimat sang:
Ich bin ein Musikant und komm aus Schwabenland,
Du bist ein Musikant und kommst aus Schwabenland.
Ich kann aufspielen auf meiner Geige,
Du
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