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Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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haben.«
    »Aber warum hast du mir nichts erzählt?«
    Er war wütend. Er blickte in ihr zerstörtes Gesicht, die Krater ihrer Augenhöhlen, auf die verbliebenen gelben Zähne, die mit einer dunklen Schicht geschmolzener Schokolade überzogen waren, auf die vorstehenden Adern auf ihrem kahlen Kopf, die Scherkratzer auf ihrem zerbrechlichen Schädel. Und sie sah, dass er wütend war.
    »Mehr Schokolade«, sagte sie und machte sich nicht die Mühe, dem Mann in der SS-Uniform seine Frage zu beantworten. Dem Mann, der ein förderndes Mitglied der SS gewesen war, der den Kuppler für die SS gespielt hatte, der Wolfram für die SS gekauft hatte, damit die Kriegsmaschinerie der Nazis weiterwüten konnte. Warum hatte sie ihm nichts erzählt?
    Er brach ein weiteres Stück ab.
    »Glaub nicht, dass ich mutig war, Klaus. Es ist alles zufällig so gekommen … nach dem, was den beiden jüdischen Mädchen passiert ist. Du erinnerst dich doch noch, dass ich dir alles darüber erzählt habe, oder etwa nicht, die Mädchen, die ich zu Lehrer und seinem Freund geschickt hatte. Dir das zu erzählen war schon ein Risiko … ein Risiko, das ich nicht noch einmal eingegangen bin, als ich gesehen habe …« Sie hielt inne und gewann ihre Fassung zurück. »Also habe ich die beiden anderen jüdischen Mädchen, die ich hatte, aus Berlin rausgeschafft, und das war’s. Ich steckte mit drin. Sie kamen immer wieder zu mir, und ich konnte sie nicht abweisen. Ich war ein Glied in der Kette geworden.«
    »Noch eine Minute«, sagte die Wärterin.
    »Als du was gesehen hast?«
    »Nichts.«
    »Sag es mir.«
    »Als ich gesehen habe, dass es dich nicht betroffen hat«, sagte sie leise.
    »Ich werde mit Lehrer reden«, sagte Felsen eilig, um nicht zu lange über das nachdenken zu müssen, was sie gerade gesagt hatte.
    »Du kapierst es tatsächlich nicht, was, Klaus? Lehrer hat mich hierher gebracht. Er wollte mich loswerden. Ich war dem Obergruppenführer peinlich geworden. Der einzige Mensch, der mich hier rausholen kann, ist Reichsführer Himmler persönlich. Also denk nicht mal dran. Mehr Schokolade.«
    Er gab ihr die drei Tafeln aus seiner Tasche, und sie verschwanden unter ihrer Kleidung. Sie stand auf, und er erhob sich mit ihr. Sie stand stramm, und er legte seine Hand auf ihren zerbrechlich aussehenden Hinterkopf. Überrascht riss sie den Kopf zur Seite und entzog sich seiner Berührung.
    »Besuchszeit beendet«, sagte die Wärterin.
    Ohne sich umzudrehen, marschierte Eva Brücke hinaus in die Wintersonne. Es war das letzte Mal, dass Klaus Felsen sie sah.

20
    24. Juli 1944,
    Hotel Riviera, Genua, Italien
     
    Felsen lag bei weit geöffnetem Fenster auf dem Bett, Sonnenlicht strömte über seinen Körper und das Frühstückstablett auf dem Nachttisch. Er fühlte sich erschöpft und benommen wie ein alter Köter auf dem Dorfplatz. Die Hand, mit der er die Zigarette hielt, war bleischwer, jeder Zug eine Anstrengung. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, zu schweben wie ein Sperrballon, nur durch ein dünnes Kabel mit der Erde verbunden.
    Er hatte sechzehn Monate stramm durchgearbeitet mit nur einer Pause, in der er nach Berlin zurückgekehrt war, um die totale Zerstörung des Neuköllner Kupplungsunternehmens in dem Bombenangriff vom 24. März 1944 mit eigenen Augen zu sehen. Speer unternahm nicht einmal einen Versuch, das Unternehmen wieder aufzubauen. Die Fabrik war dem Erdboden gleichgemacht worden.
    Felsen vermutete, dass Lehrer ihn nur deshalb zu dieser trostlosen Beerdigung hatte einfliegen lassen, um ihm zu zeigen, was aus der Hauptstadt des Dritten Reiches geworden war. Aus der Luft hatte Berlin bis auf einige Rauchwolken ausgesehen wie immer. Erst als die Maschine zum Landeanflug auf den Flughafen Tempelhof ansetzte, sah er, dass die noch stehenden Mauern fenster- und dachlose Skelette ohne Innenleben waren. Kein Mensch wohnte dort. Alle lebten im Untergrund. Die Stadt war auf den Kopf gestellt – unten eine Bienenwabe, oben ein Keller.
    Er wanderte durch die mit Schutt übersäten Straßen, vorbei an vierzehnjährigen Feuerwehrmännern, die versuchten, die Brände unter Kontrolle zu bekommen – die Straßen waren ein einziges Gewirr aus Schläuchen, herausgerissenen Schienen, provisorischen Kabelleitungen und Wasserrohren, von umgestürzten Bussen und ausgebrannten Straßenbahnen blockiert. Man kam nur zu Fuß voran. S- und U-Bahnen fuhren nicht, in den Bahnhöfen drängelten sich die Menschen. Treibstoffmangel. Er ging zur

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