Tod in Lissabon
gewährleistet war.
Am Abend fuhr er zur Rückseite des ausgebrannten Reichstagsgebäudes und kaufte auf dem schwarzen Markt vier Tafeln Schokolade. In jener Nacht schlief er kaum, sondern lag in seinem luxuriösen Bett im Adlon wach, trank viel zu viel und erging sich in Retterfantasien. Er sah sich und Eva in Tempelhof an Bord eines Flugzeugs steigen und aus dem zerstörten Berlin zu dem blauen Ozean, dem breiten Tejo und einem neuen Leben in Lissabon fliegen. So nahe wie in dieser Nacht war er als Erwachsener den Tränen nie gekommen.
Am nächsten Morgen war der Himmel wolkenlos, die Landschaft auf der sechzig Kilometer langen Fahrt nach Norden von einem eisenharten Frost weiß überzuckert, gegen den die blasse Wintersonne nie ankommen würde. Felsens Augen waren blutunterlaufen und brannten. Ein saures Gefühl im Magen ließ ihn aufstoßen, doch er schaffte es trotzdem, ein wenig des fantasierten Heldenmuts der vergangenen Nacht zu mobilisieren. Er parkte vor dem Lager und wurde auf das mit Stacheldrahtzäunen gesicherte Gelände gelassen, auf dem zahlreiche Holzhütten standen. Man führte ihn in eine dieser Hütten, in der lediglich vier Bankreihen standen, und ließ ihn allein. Stunden verstrichen. Kein anderer Besucher kam herein. Er saß auf einer Bank und rutschte mit dem durchs Fenster fallenden Sonnenlicht weiter, um nicht zu frieren.
Zur Mittagszeit kam eine Wärterin in einem grauen Wintermantel und Mütze herein. Felsen wollte sich gerade beschweren, als er sah, dass ihr eine Gestalt in gestreifter, mindestens drei Nummern zu großer Gefangenenkluft mit einem grünen Dreieck auf der Brusttasche folgte. Die Wärterin schickte die kahl geschorene Gefangene Richtung Felsen, und sie marschierte, als sollte sie exerzieren.
»Sie haben zehn Minuten«, sagte die Wärterin.
Auf diese Begegnung war Felsen nicht vorbereitet. Die Erscheinung der Gefangenen war so weit jenseits aller menschlichen Wesen auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns, dass er nicht sicher war, ob sie dieselbe Sprache sprechen würden. Er brauchte eine halbe Minute, um in dem eingefallenen grauen, wie aus Pappmache gestalteten Schädel Spuren von Eva Brücke, der Nachtklub-Besitzerin aus Berlin, zu erkennen.
»Du bist gekommen«, sagte sie ausdruckslos und setzte sich neben ihn.
Er hielt ihr seine Pranke hin, doch sie faltete ihre grauen verschrumpelten Hände im Schoß. Er brach ein Stück Schokolade ab, das sie annahm und in den Mund stopfte.
»Weißt du«, sagte sie, »ich habe immer davon geträumt, dass mir die Zähne ausfallen. Albträume. Die Leute haben gesagt, das läge daran, dass ich zu sehr am Geld hänge. Dabei habe ich mir nie viel aus Geld gemacht. Nicht so wie du. Ich wusste, dass ich panische Angst hatte, meine Zähne zu verlieren, weil ich auf dem Dorf all diese zahnlosen Frauen gesehen hatte, die Gesichter eingefallen, ihre Schönheit dahin, ihre Persönlichkeit erniedrigt. Ich habe noch acht übrig, Klaus, ich bin noch ein Mensch.«
»Was ist mit deinen Händen passiert?«
»Ich mache den ganzen Tag lang Uniformen, es ist die Farbe.«
Sie betrachtete erst seine nach wie vor ausgestreckte Hand, dann sein Gesicht und schüttelte ihren Kopf.
»Ich werde …«
»Dies ist meine Mittagspause, Klaus«, unterbrach sie ihn barsch. »Gib mir noch ein bisschen Schokolade, das ist alles, was mich interessiert. Keine Hoffnung, keine Versprechungen und ganz bestimmt keine Sentimentalitäten. Bloß Schokolade.«
Er brach ein weiteres Stück ab und gab es ihr.
»Und ich werde auch deine Zeit nicht verschwenden«, sagte sie. »Ich nehme an, du willst eine Erklärung. Nun, du hast mich an jenem Abend wirklich in Bern gesehen. Lehrer, das Schwein … er war ein so schlechter Verlierer. Ich habe dich vor ihm gewarnt, oder nicht?«
»Warum Lehrer?«
»Ich kannte ihn. Ich kannte ihn vor dir, Jahre vor dir. Er ist in alle meine Klubs gekommen. Ich war überrascht, dass ihr euch nie vorher begegnet seid. Eines Abends fragte er mich, ob ich jemanden kenne, der Fremdsprachen beherrscht, ein guter Geschäftsmann ist und etwas auf die Beine stellen kann. Und es passte alles zusammen. Du, er und was ich tat. Du solltest dich glücklich schätzen, Klaus. Wenn er dich nicht nach Lissabon geschickt hätte, säßest du heute wahrscheinlich in Dachau. Es war eine Lösung – Lehrer hat dich von der Bildfläche verschwinden lassen, und meine Beziehung zu ihm sorgte dafür, dass die Leute bei mir nicht so genau hingeguckt
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