Tod in Lissabon
loszureißen.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte er und hielt sie fest.
Sie sah ihn leeren Blickes an.
»Chave d’Ouro, das Kasino von Estoril. Hotel Parque, März 1941. Wir waren verliebt«, sagte er sarkastisch.
Sie blinzelte, und er musterte sie genauer. Irgendetwas fehlte, man konnte in ihrem Gesicht lesen, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmte.
»Ich muss nach Amerika«, sagte sie und versuchte erneut, sich loszureißen.
»Klaus Felsen«, sagte er und hielt ihr Handgelenk weiter gepackt. »Vielleicht erinnerst du dich … du hast meine Manschettenknöpfe gestohlen. Meine Initialen waren eingraviert. KF. Nicht? Wie viel hast du dafür bekommen? Offenbar nicht genug, um nach Amerika zu kommen?«
Sie wich zurück, nicht aus Angst, sondern weil sie wusste, dass sie dem Druck entkommen musste, diesem hässlichen Druck. Sie wollte zu dem Ort gelangen, wo man nett zu ihr war. Dem Ort, wo man sich um sie kümmerte. Felsen ließ sie zögernd los und folgte ihr. Sie ging in die Travessa do Noronha, wo der Comissão Portuguesa de Assistência aos Judeus Refugiados ein Krankenhaus und eine Suppenküche für jüdische Flüchtlinge eingerichtet hatte. Es war Mittagszeit, und Menschen strömten in das Gebäude. Felsen beobachtete, wie sie sich für das Essen anstellte. Sie redete mit niemandem, sah sich nur gelegentlich verstohlen um, den Kopf tief über ihre Schüssel gebeugt. Felsen sprach einen in der Schlange stehenden Arzt mit einem weißen Kittel an und erkundigte sich nach dem Mädchen.
»Wir wissen nicht genau, was mit ihr geschehen ist«, sagte der Arzt auf Portugiesisch mit Wiener Akzent. »Wir hatten einen ganz ähnlichen Fall mit der gleichen neurotischen Obsession, nach Amerika zu kommen. In dem anderen Fall war die Patientin von ihren Eltern in Österreich mit dem Auftrag in einen Zug gesetzt worden, um jeden Preis nach Amerika zu gelangen. Später erfuhr sie, dass ihre ganze Familie in die Lager gebracht worden war. Die Nachricht löste eine eigentümliche Reaktion aus, einerseits das tiefe Bedürfnis, ihren Eltern zu gehorchen, andererseits zwanghafte Schuldgefühle, die sie daran hinderten, das Ziel zu erreichen.
Der einzige Grund, warum wir bei dieser jungen holländischen Frau ein ähnliches Schicksal vermuten, ist ihr Pass, der ein amerikanisches Visum enthielt, sowie ein Ticket für eine längst erfolgte Überfahrt. Traurig … aber sehen Sie sich einmal um.«
Der Arzt reihte sich wieder in seine Essensschlange ein. Felsen sah sich um, ohne zu erkennen, was der Doktor gemeint hatte. Das Mädchen saß nicht mehr an seinem Tisch. Er verließ das Gebäude, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf die Straße. Im herbstlichen Sonnenschein ging er durch das Barrio Alto zum Lago do Carmo, wo er den elevador hinunter zur Rua do Ouro nahm.
Er ging in den zweiten Stock des Gebäudes, das für die Banco de Oceano e Rocha angemietet worden war. Die Büros befanden sich im Erdgeschoss und im ersten Stock, darüber gab es zwei Wohnungen. Im zweiten Stock wohnte Abrantes mit seiner Familie, in der obersten Etage Felsen. Abrantes hatte Felsen in der deutschen Gesandtschaft angerufen, um ihm zu sagen, dass Maria aus dem Krankenhaus entlassen worden war und er sich sein neues Patenkind ansehen solle.
Das Mädchen führte Felsen durchs Wohnzimmer. Maria lag in einem bei dem Wetter überflüssigen Pelzmantel auf der Chaiselongue. Er konnte sie kaum ansehen. In weniger als einem Jahr hatte sich das Bauernmädchen in die Parodie eines Vierzigerjahre-Filmstars verwandelt. Sie konnte nicht lesen, blätterte aber durch Zeitschriften, aus denen sie auswählte, was immer ihr gefiel, und Abrantes erfüllte ihr jeden Wunsch. Felsen zündete sich eine Zigarette an und unterdrückte ein höhnisches Grinsen. Maria zündete sich ebenfalls eine an und blies den Qualm geübt durch die Nase aus.
Abrantes starrte auf die Rua do Ouro hinab. Die Fenster waren kreuzweise mit Klebeband gegen Bombenangriffe gesichert, die die Portugiesen noch immer ängstlich erwarteten wie eine auf Südosteuropa zuziehende Schlechtwetterfront. Felsen hatte sogar Fliegeralarm gehört und auf dem Praça do Comércio Soldaten hinter Stacheldraht-Barrikaden auf Sandsäcken sitzen sehen, wobei er sich gefragt hatte, worin genau ihre Aufgabe bestand.
Abrantes trug einen grauen Anzug und inzwischen auch eine Brille, obwohl er nie vorgab, lesen zu können. Er rauchte eine charuto , eine Zigarre. Seine Verwandlung von einem Bauern
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