Tod in Wacken (German Edition)
Wewelsflether Schulstraße ging. Er machte Platz für zwei Kinder, die mit ihren Rollern an ihm vorbeifuhren, gleichzeitig grüßte er eine schwarz gekleidete Frau, die einen Strauß weiße Rosen auf einem frischen Grab arrangierte. Lyn lächelte.
Auch Hendrik hatte sich schnell daran gewöhnt, dass in Wewelsfleth der Friedhof, an den ihr Häuschen direkt grenzte, nicht an den Dorfrand verbannt war. Im Gegenteil. Mit der fünfhundert Jahre alten Trinitatiskirche bildete er den Dorfmittelpunkt, und auf den Friedhofswegen war eigentlich immer jemand unterwegs, Richtung Schule oder Bäcker oder Bushaltestelle. Hier waren die Toten auf eine selbstverständliche Art eingebettet in den Alltag der Lebenden.
»Mama?«
»Ja doch«, rief Lyn Richtung Obergeschoss, schloss die Haustür und ging die Treppe hinauf in das Zimmer ihrer Ältesten. »Was gibt’s denn so Dringliches, dass du es mir nicht unten erzählen kannst?«
»Hendrik soll das nicht mithören.«
Lyn ließ sich auf das ungemachte Bett fallen und blickte ihre Tochter traurig an. »Fängst du jetzt auch noch an, Lotte?«
»Wegen Hendrik? Keine Panik.« Sie ließ die Hand mit dem Mascara sinken und warf Lyn im Spiegel einen kurzen Blick zu. »Wenn der auf Dinos steht, soll’s mir egal sein.«
»Weißt du was, Lotte?« Lyn stand auf, stellte sich hinter ihre Tochter und suchte den Blickkontakt im Spiegel. »Im Moment komme ich mit deinen blöden Sprüchen besser klar als mit der offensiven Abneigung deiner Schwester. Aber ich könnte trotzdem gut auf deine beleidigenden Kommentare verzichten.«
Sie atmete tief aus. Dass Hendrik mit seinen dreißig Jahren neun Jahre jünger als sie selbst war, war grässliche Tatsache, und sie hatte daran schon genug zu knabbern. Da musste Charlotte nicht noch Salz in die Wunde streuen.
»Ach, Mama«, Charlotte drehte sich um und schmatzte einen Kuss auf Lyns Wange, »nimm nicht alles so ernst, was ich sage. Ich mag Hendrik, wirklich, aber es gibt einfach Dinge, die er nicht wissen muss.« Sie fuhr mit dem Tuschen der Wimpern fort und sagte: »Ich bin heute Nachmittag beim Frauenarzt und lass mir die Pille verschreiben. Kannst du mich nach der Arbeit da abholen?«
»Was?« Lyn starrte ihre Tochter an. »Du … du bist doch erst …«
» Erst siebzehn?«, vervollständigte Charlotte den Satz ihrer Mutter belustigt. »Mama! Wie alt warst du denn, als du das erste Mal mit einem Jungen geschlafen hast?«
»Du bist doch erst acht Wochen mit diesem Max zusammen, wollte ich sagen. Und ich habe den noch nicht mal kennengelernt. Bist du dir sicher …? Ich meine … Und überhaupt: Ich war schon fast neunzehn, als ich mit deinem Vater das erste Mal geschlafen habe.«
»Wir wollen ja auch noch warten. Aber du hast immer gesagt, ich soll um Himmels willen zu dir kommen, wenn Verhütung mal ein Thema ist. Also laber mich jetzt auch nicht voll.« Sie drehte sich um. »Und du hast echt bis jetzt nur mit Papa und Hendrik geschlafen? … Ist ja irgendwie cool, aber auch ein bisschen Dino-Moral, oder?«
Lyn stellte den Computer an, setzte sich aber noch nicht an ihren Schreibtisch, sondern warf einen Blick aus ihrem Bürofenster im zehnten Stock des Itzehoer Polizeigebäudes. Schirme in allen Farben schützten die wenigen Passanten vor dem Platzregen an diesem Augustmorgen. Das richtige Wetter, um den Aktenberg mit älteren Fällen abzuarbeiten. Hauptkommissar Wilfried Knebel, Chef der Mordkommission der Itzehoer Kripo, hatte die Frühbesprechung mit diesem Hinweis schnell beendet, da kein aktueller Fall zu bearbeiten war.
»Leihst du mir mal dein Diktiergerät?« Thilo Steenbuck blieb in der offenen Bürotür stehen. »Meins funktioniert nicht mehr, seit Birgit es gestern in ihren Wurstfingern hatte.«
»Pass bloß auf, dass sie dich nicht hört«, warnte Lyn ihren Kollegen, »sie befindet sich gerade mal in einer Nicht-beleidigt-Phase. Und die würde ich gerne noch ein bisschen genießen.«
»Ich hab den anderen Kommissariaten gerade einen Sekretärinnenwechsel im Vier-Wochen-Turnus vorgeschlagen. Wurde aber abgelehnt.«
»Tja, unserer Birgit eilt ihr Ruf voraus.« Lyn öffnete die obere Schreibtischschublade und drückte Thilo ihr Aufnahmegerät in die Hand.
Der schien allerdings am angeordneten Abarbeiten zurückliegender Fälle nur mäßig interessiert, denn er ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder und griff nach der »Norddeutschen Rundschau«, die Lyn auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte.
»Hast du sie schon gelesen?
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