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Tod Live

Tod Live

Titel: Tod Live Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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63-cm-Röhre. Das meiste Material war also neu für mich. Und in eine konzentrierte Vorführung von zehn Stunden zusammengedrängt, war es erschütternd.
    Ich muß hier betonen, daß nicht alle Episoden von Todeskandidaten handelten und nicht alle Fälle mit dem Tod endeten. Zum Beispiel wurde ein Fall progressiven unheilbaren Wahnsinns gezeigt. In sechs qualvollen Folgen wurde die soziale Rehabilitation eines arm- und beinlosen Unfallopfers analysiert. Ich sah sogar eine Sendung, die in der überraschenden Gesundung einer Frau gipfelte, bei der die Ärzte von einer Zwangsabtreibung aus psychiatrischen Gründen abgeraten hatten. Die Kamera verweilte bei ihr, wartete auf den versprochenen Zusammenbruch, der jedoch nicht eintrat. Der Regisseur verschob den Akzent der Sendung auf das uralte ›Wunder der modernen Wissenschaft‹. Es war seltsam anrührend.
    So verschieden die Folgen waren, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie bemühten sich um absolute Wahrheit über den menschlichen Zustand.
    Jede Episode war eine Halbstundensendung ohne Schluß, und die Folgen wurden oft täglich ausgestrahlt – besonders, wenn sich das Schicksal von Todeskandidaten seinem Ende zuneigte. Die Serie erkundete offen und ehrlich den geistigen und körperlichen Zustand sowohl der Kranken als auch der Familienmitglieder oder Pfleger, die die Betreffenden auf ihren qualvollen Reisen begleiteten. Sie war ein Denkmal menschlicher Ausdauer, des menschlichen Geistes in extremer Situation. Jede Sendung war ein denkwürdiges Erlebnis. Ich will damit nicht sagen, daß die Menschen in allen Episoden ausschließlich edel und mutig waren: es wurden Egoismus gezeigt und Erniedrigung, Feigheit, die kleinliche Geltungssucht von Nachbarn, die sich um die Aufmerksamkeit der Kamera bemühten, gierige Familienmitglieder, die sich um ihre Erbteile sorgten, auch der Haß von Krankenschwestern, die lange und unterbezahlt für anspruchsvolle, dumme, hoffnungslos unwürdige Menschen arbeiten mußten. Aber es handelte sich um echte Reaktionen, um wahre Reaktionen, um menschliche Reaktionen. Sie trafen ins Ziel. Sie hatten nichts Künstliches, diese normalen Reaktionen ganz normaler Leute. Unweigerlich erinnerten sie den Fernsehzuschauer an seine eigene, latente Kraft zum Guten oder Bösen, zum Mut oder zur Gemeinheit. Die Sendung bot eine klare Entscheidung, und mit dieser Entscheidung die Folgen – Elend oder Freude. Die Episoden, die in dichter Folge auf mich einprasselten, hatten eine niederschmetternde Wirkung.
    Gegner dieser Art wahrheitsgemäßer Reportage behaupteten stets, eine ständige Konfrontation mit dem Schauspiel des Leids ließe die Empfindsamkeit abstumpfen. Bei der Schicksals-Serie ging es jedoch darum, daß das Leid progressiv dargestellt wurde. Sie konnte immer wieder Entsetzen und Mitleid auslösen, weil sie stets neue Pein auf Lager hatte. Und weil auch Zeit für die Tiefenstudien blieb, wurden die Betroffenen als Individuen gezeigt, nicht nur als Tagesschausymbole – der brennende Soldat, das hungernde Baby, das kopflose Bombenopfer. Es waren echte Menschen mit echten Schwiegermüttern und echten Mißgeschicken – wenn etwa das Abendessen unbeachtet auf dem Herd verschmorte. Und gerade solche Einzelheiten brachten Leben in die Sendung, bewahrten ihre Fähigkeit, die Menschen zu erschüttern.
    Selbst heute noch erinnere ich mich an das angebrannte Abendessen, vom kühlen Auge der Kamera im Gegenschnitt beobachtet, während der Mann mit einem Anfall im Wohnzimmer lag, Urinflecken auf dem Kunststoffteppich, ein Stuhl zerbrochen, der Bruder am Telefon heftig fluchend, die Frau, die eigentlich die Kinder aus dem Zimmer bringen oder das Gas hätte abstellen sollen, mit einem rotledernen Schuh den Mann anstoßend, um zu sehen, ob er nun diesmal wirklich tot war. Und die Großaufnahme ihres Gesichts, als sie feststellte, daß er noch lebte, als sie erkennen mußte, daß sich die ganze Szene noch einmal wiederholen würde.
    Das waren Augenblicke, auf die ein Reporter sein ganzes Leben warten mochte. Augenblicke, wie sie die Schicksals-Serie immer wieder hervorbrachte.
    Und die Bewertungen zeigten, daß die NTV das unterbewußte Bedürfnis der Öffentlichkeit richtig einschätzte. Das Leben der Menschen war hohl, war zu einem glatten, schmerz- und todeslosen Werbetraum verschönt. Die Öffentlichkeit wollte daran erinnert werden – und hatte diese Erinnerung verdient –, daß ihr Leben nur eine Hälfte des Lebens war, die Hälfte, die ihr eine

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