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Tod Live

Tod Live

Titel: Tod Live Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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würde sie verabscheuen. Doch er würde sie nicht dazu bringen, aufzuhören. Er war eben Harry. Sie klammerte sich an der Sitzkante fest, sah die Ladenfronten vorbeigleiten und schwieg abrupt, kämpfte das schreckliche Bedürfnis nieder, das ihren Körper weiter erfüllte. Auch ihr Geist, ein Teil ihres Geistes schrie weiter. Harry sagte: »Gut gemacht.«
    Sie erreichten ohne weitere Zwischenfälle die Wohnung, ohne weiteres Gespräch. Das Schreien verging. Geschützt durch ihre plakettenbewehrte Tür, standen sie im Flur, und der Schweiß trocknete unter ihren Armen; zugleich verging die Erregung. Harry ließ sie los. »Tut mir leid«, sagte er und tat großzügig so, als sei ein Teil der Ereignisse irgendwie auch seine Schuld.
    Sie wanderte langsam ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. Seine Schuld? Sie schloß die Augen. Wessen Schuld? Wenn sie eine Entschuldigung gehabt hatte, zum Schloß zu fahren – abgesehen von dem offenkundigen Grund, seine Handtuchrede zu stoppen, ihm nicht darauf antworten zu müssen –, dann die Hoffnung, in die Vergangenheit zu schauen, die Dinge im rechten Verhältnis zu sehen. Siebenhundert Jahre, sichtbare und berührbare siebenhundert Jahre würden den Tod richtig und angemessen erscheinen lassen… Es war eine vernünftige Hoffnung. So daß auf eine Weise ihre Nicht-Antwort gegenüber Harry doch eine Antwort war – obwohl er das nie begreifen würde. Und von Schuld gar nicht die Rede sein konnte.
    Aber der Blick auf die siebenhundert Jahre, die Berührung mit der Vergangenheit, war ihr nicht gegönnt gewesen. Menschen waren dazwischengekommen. Sie lag mit geschlossenen Augen da und testete schweigend die Beweglichkeit ihrer Hände. Sie konnte die Daumen noch umknicken. Es war also noch ein weiter Weg.
    Auf Harry hatten die Ereignisse des Vormittags anders gewirkt, hatten ihn unruhig gemacht, ihn auf Pläne gebracht. Er marschierte im Zimmer herum, machte Vorschläge, nannte Orte, die sie besuchen konnten. Sie lauschte ihm mit einem Gefühl der Zuneigung, sogar Liebe, und fühlte sich dennoch auf ihrer abschüssigen 26-Tage-Bahn allein gelassen. Schließlich mußte sie ihn unterbrechen.
    »Wir gehen nirgendwohin«, sagte sie. »Wir bleiben hier. Wir flüstern nur noch und ziehen die Vorhänge zu, damit man uns nicht von Hubschraubern aus sehen kann, und stellen alle Klingeln ab. Wir bleiben hier, an dem einzigen Ort, wo wir sicher sind.« Und gleiten ruhig und allein in den Tod hinüber.
    Er blieb stehen. »Was ist mit dem Einkaufen?« Er war geduldig. »Denk dran, daß ich hier im Stadtteil bekannt bin. Wenn ich losgehe…«
    »In wenigen Stunden wirst du in allen Stadtteilen bekannt sein. Und wo du nicht bekannt bist, wird man dir folgen. Wir lassen die Sachen liefern.«
    »Ich sage das nicht gern, Katherine, aber ich glaube, du überschätzt das öffentliche Interesse an deinem Fall.«
    »Wirklich?«
    »Ja. In ein paar Tagen sind die Leute bestimmt schon hinter etwas anderem her.«
    »Wir bleiben hier«, sagte sie leise. »Hier sind wir sicher.«
    Er setzte sich neben sie und ergriff ihre noch immer beweglichen Hände und blickte ihr in die noch nicht halluzinierenden Augen. »Katherine, mein Schatz, wir würden wahnsinnig. Niemand könnte so leben. Wir würden uns hassen. Wir würden durchdrehen.«
    Natürlich hatte er recht. »Natürlich hast du recht«, sagte sie. Und erkannte plötzlich, daß sie nur allein ertragen konnte, was ihr bevorstand. »Wir überlegen uns, wohin wir fahren können. Es muß doch eine Möglichkeit geben.«
    Sie nahm seine Hände, zog ihn näher heran und küßte ihn auf den Mund und flüsterte: »Es tut mir so leid, mein Schatz«, auf jene intime, vage Art, die keinen Raum für eine Antwort läßt. Er tätschelte sie, und sie küßten sich wieder, während sich Katherine angestrengt fragte, wie sie ihn nur loswerden könne. Die Last, die sie füreinander waren, schien unerträglich.

    Katherine Mortenhoes Vater, Clement Pyke, wohnte allein in den alten Docks, an Bord eines umgebauten, ehemaligen Polizeitragflügelboots. Es lag am Ende einer Reihe von dreißig Booten in dümpelndem Unrat. Die Leiter wirkte klapprig, die Elektrizitäts- und Wasserleitungen sehr unzuverlässig. Ich wußte, daß die ganze Gegend in Kürze im Venedigstil saniert werden sollte.
    Clement Pyke, der Ende Sechzig sein mochte, trug – wahrscheinlich meinetwegen – einen fleckenlosen, roten Sombrero, ein komisches, fransiges Lederhemd und eine enge, grüne

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