Tod Live
mehr die Zeit dazu hatte. Nichts paßte zusammen. Und ich wußte noch nicht einmal, warum sie sich Mortenhoe nannte.
Als ich ins Büro kam, lag auf meinem Tisch ein Zettel von Vincent – er wollte mich sofort sprechen.
»Ich habe Neuigkeiten für dich, Roddie.« Er reichte mir ein Bündel Fotos. »Die Dinge entwickeln sich glatt. Das Dummerchen hat heute einen Ausflug gemacht, und unsere Freunde sind ihr auf den Pelz gerückt. Wenn die Kerle die Nerven behalten hätten, wäre sie schon reif.«
Die Bilder zeigten eine Art Aufstand: wütende Gesichter, die vertraute Häßlichkeit. Ich schaute näher hin. »Sie ist also entkommen?«
»Sie schrie einfach los. Kannst du dir das vorstellen?
Sie hat einen Riesenaufstand gemacht, und die Burschen haben sie ziehen lassen. Wären das meine Reporter, würden sie sich schon nach einem neuen Job umsehen.«
»Sie hat einen Aufstand gemacht? Sieht Katherine Mortenhoe aber gar nicht ähnlich.«
»Ein guter Versuch, würde ich sagen. Absolut berechnet. Das muß man ihr lassen.«
Ein Foto zeigte eine Brustaufnahme von Harry. Seine Frau stand hinter ihm, mit verkniffenem Gesicht, als erwarte sie, geschlagen zu werden. Auf einem anderen Bild hatte sie den Mund weit aufgerissen und sah sehr unattraktiv aus. Ihre Augen waren kalt – wahrscheinlich schrie sie. Auf einem weiteren Foto sah ich deutlich eine Speichelspur an ihrem Kinn – und ihre Hand war vermutlich auf dem Weg nach oben, um die Nässe fortzuwischen.
»Trotzdem«, sagte Vincent, »war die Szene wohl ziemlich schlimm.«
Ich gab ihm die Aufnahmen zurück. Katherine Mortenhoe und ihre Peiniger waren kaum zu unterscheiden.
Am Spätnachmittag kamen weitere Zustellbriefe. Sie wurden von einem anderen Briefträger gebracht, der jedoch ebenso diensteifrig war. Harry fertigte ihn kurz ab, was ihn enttäuschte, und brachte die Post ins Wohnzimmer, wo Katherine am Fernsehgerät die dritte Wiederholung der Szene vor dem Schloß verfolgte. Geschickte Regie hielt sie selbst vom Bildschirm fern, wie es nach ihrer Leiderklärung Vorschrift war, und ihre Schreie waren überlagert worden. Mit jeder Wiederholung fühlte sie sich weniger betroffen: Diese attraktive, vierundvierzigjährige Mrs. Mortenhoe, wie sie von den Ansagern genannt wurde, war nicht sie, und auch der aggressiv-stämmige Mr. Blount war nicht ihr armer, ängstlicher Harry. Es waren Wesen, die nur die Realität der Bandaufzeichnung hatten. Sie waren ein Teil der Bildmaschine. Auch die Namen waren unkenntlich zwischen den Lippen der Reporter.
Harry öffnete den ersten Brief. Er stammte von einer Spiritualistengruppe. »Sie wollen sich heute in sechs Wochen mit mir treffen«, sagte er.
Sie fragte sich, warum er ihr das alles erzählte. Vielleicht ließen die Briefe die Gegenwart – und deshalb auch die Zukunft – weniger real erscheinen. Es war ein Gefühl, das stärker werden konnte, und das war gefährlich. Vor langer Zeit, vor zwei Tagen, war die Wahl einfach gewesen – ihre Tage voll auszuleben, ihr Buch zu schreiben, ihre Pflicht gegenüber Peregrine zu tun oder sich auf ihre Würde zu besinnen. Jetzt mußte sie kämpfen, wenn es sich überhaupt zu kämpfen lohnte, um wenigstens noch die Möglichkeit der Wahl zu haben. Wenn sie wollte, konnte sie sich in der Bildmaschine verlieren.
Harrys Aufmerksamkeit wurde auf einen Telegrammumschlag mitten im Bündel gelenkt. Er zog ihn heraus, öffnete ihn, las den Text und reichte ihn Katherine weiter. ENTSETZT ÜBER SCHLOSSBERICHTE STOP SCHÄME MICH FÜR UNPROFESSIONELLES VERHALTEN DER KOLLEGEN STOP ERNEUERE ANGEBOT ÜBER VOLLSCHUTZ BALDMÖGLICH STOP FERRIMAN. Sie las den Text zweimal, dann auch das Kleingedruckte auf der Rückseite des Formulars, die Annahmezeit, den Stempel des Annahmeamts.
»Wieviel hat dir dieser Mann geboten, Harry?«
Diesmal wich er nicht aus. »Dreihunderttausend Pfund.«
Die Worte vermengten sich in ihrem Kopf mit den ebenso unwahrscheinlichen Geräuschen aus dem Fernseher. Sie hob die Hand und schaltete das Gerät aus. »Mr. Mathiesson hat von siebenhunderttausend Pfund gesprochen.«
»Vermutlich hat er nur geraten. Vincent sagte dreihunderttausend. Ich hab’s sogar schriftlich.«
»Oh, wirklich?« Sie hatte gleich angenommen, daß in Harry mehr steckte, als man auf den ersten Blick sah. »Und das Stück Papier, das du sozusagen unterschrieben hast?«
»Was meinst du?«
»Komm schon, Harry. Du hast ihm versprochen, ihn zu informieren, wenn wir die Stadt verlassen. Er hat doch
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