Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
Sonneneinstrahlung. Phina pflückte eine unreife Traube vom Weinstock, schob sie in den Mund und schloss die Augen. Noch war nichts von den sortentypischen Aromen zu erkennen, die an Stachelbeeren oder Brennnesseln erinnerten. Aber sie war sich sicher, dass daraus ein großartiger Weißwein werden würde.
Angesichts einer globalen Schwemme von guten Rotweinen, nicht nur aus den traditionellen Anbaugebieten in Europa, sondern zu konkurrenzlos niedrigen Preisen auch aus Übersee, vertrat sie die Auffassung, dass Südtirols Zukunft bei den Weißweinen lag. Beim Sauvignon sowieso, aber auch beim heimischen Gewürztraminer und beim Weißburgunder. Die Voraussetzungen waren ideal. Und es gab keine negativen Vorurteile zu überwinden, die dem Vernatsch immer noch wie Pech anhafteten – aus längst vergangenen Zeiten, als vom Kalterersee und Sankt Magdalener mehr Wein verkauft wurde, als in den Anbaugebieten überhaupt produziert wurde.
Phina, die ausgesprochen attraktiv war, aber die kräftigen Hände eines Weinbauern hatte und eine sonnengegerbte Haut, musste an ihren Vater denken. Der hatte von Weißweinen nichts wissen wollen, auch nichts von internationalen Sorten wie Cabernet und Merlot. Für ihn hatte es nichts anderes gegeben als den Vernatsch, der in Südtirol schon im Mittelalter angebaut wurde. Phina riss einige Blätter von einem Rebstock. Ihr Vater war auch gegen die biodynamische Bewirtschaftung gewesen, die sie mittlerweile mit großem Erfolg praktizierte. Er hatte nur mitleidig gelächelt, wenn sie von der natürlichen Balance zwischen Natur und Wein gesprochen hatte, von organischem Kompost, der Vermeidung von Chemikalien und von den kosmischen Kräften von Sonne und Mond. Stattdessen hatte er vorgehabt, das Weingut zu verkaufen, das seit Generationen im Familienbesitz war. Auf Phinas Stirn bildeten sich steile Falten, ihre Hände verkrampften sich. Das alles nur deshalb, weil er keinen Sohn hatte, der die Tradition fortsetzen konnte – nur eine Tochter, die er zwar liebte, aber sich nicht als Nachfolgerin vorstellen konnte.
Sie verknotete fest ihre Hände, bis das Weiße an ihren Knöcheln hervortrat. Phinas Atem ging kurz, ein Zittern durchlief ihren Körper. Nun, ihr Vater war nicht mehr am Leben. Seine antiquierten Vorstellungen waren mit seinem Leichnam auf dem Friedhof von St. Pauls beigesetzt worden. Gott sei seiner Seele gnädig! Sie entfaltete ihre Hände und hob sie vor ihr Gesicht. Dass an ihnen Blut klebte, war nicht zu erkennen. Aber sie konnte es nicht vergessen. Jeder neue Jahrgang war ein «Blutwein». Und da gab es keinen Unterschied zwischen Vernatsch, Lagrein, Gewürztraminer, Weißburgunder oder Sauvignon.
[zur Inhaltsübersicht]
4
Emilios Laune hatte sich nicht wesentlich gebessert, als er am Nachmittag zum Hotel Bayerischer Hof schlenderte. Immerhin waren die Kopfschmerzen verflogen, das war ein unerwartetes Erfolgserlebnis an diesem trüben Tag. Frank hatte ihm das Versprechen abgenommen, sich nicht auf dem Alten Südfriedhof auf eine Parkbank zu setzen, was er oft tat, um dem hektischen und fröhlich-nervigen Treiben zu entfliehen. Er hatte ihm sein Wort gegeben, den Termin mit der alten Dame wirklich wahrzunehmen. Der Baron wählte den Weg über den Viktualienmarkt. Seinen schwarzen Gehstock, der auf Hochglanz poliert war und einen silbernen Knauf hatte, brachte er nur bei jedem dritten Schritt zum Einsatz. Er hätte auch ohne Stock gehen können, sehr gut sogar und erstaunlich ausdauernd, aber er hatte sich an das Requisit gewöhnt, und trotz seines leichten Hinkens fand er auf diese Weise einen ihm angenehmen Laufrhythmus. Obwohl es leicht nieselte, trug er eine dunkle Sonnenbrille, mit einem dicken Hornrahmen, der so altmodisch war, dass er schon wieder avantgardistisch wirkte. Die Sonnenbrille hatte bereits seinem verstorbenen Vater gehört. Ebenso die rahmengenähten Budapester, die mindestens dreißig Jahre alt waren. Er hielt die maßgefertigten Schuhe seines Vaters in Ehren. Emilio hatte sich vorgenommen, in diesem Leben keine Schuhe mehr zu kaufen – die Dutzend Klassiker seines Vaters mussten bis zu seinem letzten Gang halten.
Im Vorbeigehen ignorierte er an einem Obststand das Schild, dass man die feilgebotene Ware nicht anlangen dürfe, er nahm geistesabwesend eine Handvoll Bio-Erdbeeren aus einem Korb, schob die erste in den Mund und ging weiter. Einige Kunden sahen ihm ob dieser Dreistigkeit entgeistert hinterher. Die Marktfrau lächelte, sie kannte den
Weitere Kostenlose Bücher