Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
sich besagten Niki in Erinnerung. Richtig, das war Theresas Sohn gewesen, Nikolaus Steirowitz, ihr einziges Kind, er hatte ihn kaum gekannt. Niki war irgendwann ums Leben gekommen, daran erinnerte er sich. Sie stießen also gerade auf den Geburtstag ihres toten Sohnes an. Warum nicht?
Theresa sah Emilio an. «Niki, du weißt …»
«Natürlich, Niki, dein verstorbener Sohn», bestätigte er. «Ich habe ihn noch als jungen Mann in Erinnerung. Er wäre heute fünfzig geworden? Unvorstellbar, wie schnell die Zeit vergeht.» Fast genierte er sich für den blöden Satz, aber etwas anderes als diese Platitude war ihm spontan nicht eingefallen.
«Deshalb habe ich dich hergebeten», fuhr Theresa fort. «Ich danke dir, dass du gekommen bist.»
«Das ist doch selbstverständlich …»
«Nein, ist es nicht. Wäre ich nicht so penetrant gewesen», sie drohte ihm lächelnd mit dem Zeigefinger, «hättest du mir einen Korb gegeben, ich kenne dich.»
Er hob entschuldigend die Hände. «Vielleicht, aber jetzt bin ich hier.» Dabei dachte er, dass nicht Theresas Überzeugungskraft den Ausschlag gegeben hatte, sondern Frank und die normative Kraft des Faktischen – in Form ausstehender Mietzahlungen.
Theresa machte eine lange Pause, sie leerte das Glas, sah ihn forschend an, gab dem Ober ein Zeichen, nachzuschenken. Dann fuhr sie fort: «Nikis Tod ist genau zehn Jahre her», sie seufzte, «zehn Jahre, zwei Monate und vielleicht zwei Wochen, oder eine Woche, oder drei Wochen, plus minus einige Tage.» Theresa langte sich an den Kopf. «Das ist nicht zu fassen. Ich habe ihn geboren, aber ich weiß nicht, wann Niki gestorben ist, an welchem Tag ich auf den Friedhof gehen soll, um an seinem Grab eine Kerze zu entzünden.»
Emilio sah sie fragend an. Diesen Gesichtsausdruck beherrschte er, selbst wenn ihn eine Antwort nur wenig bis gar nicht interessierte.
«Du willst wissen, wie das sein kann?», fuhr sie fort.
«Ja, natürlich», bestätigte er, «leider weiß ich nicht, wie Niki ums Leben gekommen ist, tut mir leid.» Er ließ sich dazu hinreißen, ihre Hand zu nehmen und zu streicheln. Manchmal war er sich selbst ein Rätsel.
«Niki hat in Bozen gelebt», erklärte Theresa, «er war unverheiratet, hatte keine Kinder. Er hatte eine Vinothek, die lief sehr gut. Bei einer Bergtour ist er über eine hohe Felswand gestürzt. Wanderer haben seinen Leichnam erst einige Zeit später entdeckt. Der genaue Todeszeitpunkt ließ sich nicht mehr feststellen.»
Emilio hatte noch nie verstanden, warum Menschen freiwillig auf Berge stiegen, dabei ins Schwitzen gerieten und sich unkalkulierbaren Gefahren aussetzten. Mit diesem Unsinn hatten im 19. Jahrhundert die Engländer angefangen. Wäre Niki im Tal geblieben, wie jedes vernunftbegabte Wesen, wäre er noch am Leben. Nun ja, oder auch nicht, wer wusste das schon?
Emilio räusperte sich. «Ein Unfall?», hakte er nach. «War er bei der Bergtour alleine?»
«Du stellst die richtigen Fragen, deshalb wollte ich mit dir sprechen. Ein Unfall? So steht es im Bericht der Polizei. Dort steht auch, dass Niki die Wanderung alleine unternommen hat. Das hätten die Nachforschungen ergeben.»
«Macht man das? Geht man alleine auf den Berg?»
«Doch, warum nicht. Die Tour war nicht weiter gefährlich. Außerdem war Niki ziemlich leichtsinnig. Er hat schon als Kind die verrücktesten Sachen gemacht.»
«Dann war das ein Fehler. Aber es hätte wohl nichts geändert, oder? Nach einem Sturz über eine hohe Felswand kommt wahrscheinlich jede Hilfe zu spät.»
Theresa sah ihn ob dieser pietätlosen Bemerkung vorwurfsvoll an, nahm dann einen Schluck vom Riesling-Sekt. «Der hätte auch dem Niki geschmeckt», murmelte sie. «Du hast recht», fuhr sie fort, «nach dem Sturz war alles vorbei. Wenigstens hat er nicht leiden müssen. Aber ich darf mir gar nicht vorstellen, wie lange er am Fuße der Felswand gelegen hat, was mit ihm in dieser Zeit …» Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
«So darfst du nicht denken, behalte deinen Niki lebend im Gedächtnis, erinnere dich an schöne Zeiten.» Noch so eine Platitude.
Theresa tupfte sich mit der Serviette die Tränen von den Wangen. «Doch, das tue ich, keine Sorge. Aber sein Tod lässt mir keine Ruhe, auch nicht nach zehn Jahren. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin.»
«Schuldig?»
«Ab und zu träume ich, dass er zu mir spricht. Er macht mir Vorwürfe. Warum, so fragt er, will ich als seine Mutter nicht wissen, was
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