Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
«Wein-Baron» schon seit langem, sie mochte seine kauzige Art und verzieh ihm so einiges.
Emilio genoss die ungewaschenen Erdbeeren, das Grünzeug aß er mit, schließlich taten das auch die Ziegen. Er überquerte den Marienplatz, schob mit dem Gehstock einige Touristen zur Seite, die hinauf zum Glockenspiel am Rathaus starrten. Währenddessen versuchte er, sich an «Tante Theresa» zu erinnern. Sie entstammte einer alten Industriellenfamilie aus Wien, so viel wusste er noch. Ihre Freundschaft zu Emilios verstorbener Mutter ging wohl auf gemeinsame Jungmädchenzeiten in einem Schweizer Internat zurück. Theresa war bei Emilios Eltern ein- und ausgegangen, war bei allen Familienfeiern zugegen gewesen, hatte einfach zum Leben dazugehört. Auch hatten sie Theresa gelegentlich in ihrer Villa im Südtiroler Meran besucht. Daran konnte er sich noch gut erinnern – auch an den Vorhang, den er zu Weihnachten versehentlich angezündet hatte.
Emilio ging am Dom vorbei, durch eine Passage, schließlich erreichte er den Bayerischen Hof. Davor parkten Luxuslimousinen, einige Wichtigmenschen in Anzügen telefonierten mit ihren Handys. Emilio stöhnte. Aber er konnte nicht umdrehen, denn Versprechen pflegte er zu halten, auch wenn er sie leichtfertig gegeben hatte. Und vielleicht, so hoffte er, war es amüsant, die alte Freundin seiner Mutter wiederzusehen. Er hatte ein Faible für Realsatire.
Emilio betrat das Hotel, erinnerte sich, wo Theresa auf ihn warten wollte, ging aber erst auf die Toilette, um sich die Hände zu waschen und den Mund zu säubern. Er wollte ihr beim Handkuss Reste von Erdbeeren ersparen. Er entdeckte die alte Dame sofort, trotz ihres gewaltigen Strohhutes, sogar hinter dem roten Fächer, mit dem sie sich Luft zufächelte. Oder vielleicht gerade deshalb, sie war kaum zu übersehen. Auch Theresa hatte ihn entdeckt, sie klappte den Fächer zusammen und zeigte ein strahlendes Lächeln. Sie schien sich wirklich zu freuen, ihn wiederzusehen. Nun, dann war sein Kommen schon mal nicht gänzlich vergebens gewesen. Es war ihm bislang nur selten beschieden gewesen, alte Damen glücklich zu machen.
Die folgende Stunde unterhielten sie sich zunächst über Belanglosigkeiten, dann über vergangene Zeiten. Das Gespräch verlief relativ einseitig, denn Theresa erzählte ausführlich und mit Liebe zum Detail, wie sie Emilios Mutter kennengelernt hatte, von ihren gemeinsamen Jahren in der Schweiz, über Jungmädchenstreiche und erste, schüchterne Männerbekanntschaften. Emilio beschränkte sich weitgehend aufs Zuhören, die Geschichten gefielen ihm, sie brachten ihn dazu, an seine verstorbene Mutter zu denken. Warum tat er dies sonst so wenig?
Auf seine Frage und um das Thema zu wechseln, schilderte Theresa ihren Jahresablauf, der an feste Rituale geknüpft schien. Wie er wisse, habe sie ihren Hauptwohnsitz in Meran, dort verbringe sie die meisten Monate, aber sie liebe es, zu reisen. Allerdings versuche sie, sich nur innerhalb der Grenzen der alten Donaumonarchie zu bewegen. Südtirol sei ohnehin nur aufgrund höchst dubioser Ereignisse abhandengekommen. Schließlich habe das wunderschöne Land an Etsch, Passer und Eisack seit dem 14. Jahrhundert zum Habsburger Reich gehört. Dass es 1918 an Italien gefallen war, wurde von ihr konsequent ignoriert. An den Vertrag von Saint Germain dürfe sie gar nicht denken, davon bekäme sie Migräne.
Emilio zog es vor, ihr nicht zu widersprechen. Sein Einwand, dass sie mit München die historischen Grenzen der Donaumonarchie überschritten hätte, konterte sie mit dem Hinweis, dass sich König Ludwig II. gut mit der Sissi verstanden habe – außerdem sei sie hier, um sich mit Emilio zu treffen und mit ihm etwas zu besprechen.
Emilio musste grinsen. Die alte Dame hatte ziemlich abgefahrene Ansichten, aber im Kopf war sie hellwach, das musste man ihr lassen. Und sie schien endlich zum Grund ihres Treffens zu kommen. Aber auch das machte sie auf Umwegen. Theresa orderte einen Sekt. «Nein, keinen Champagner», rüffelte sie den Ober. Sie bevorzuge Riesling-Sekt. Von dem «französischen Sprudel», so ihre Erklärung, bekäme sie Sodbrennen. Und Prosecco sei vulgär.
Die Flasche wurde entkorkt. Gab es was zu feiern? Die alte Dame hob ihr Glas. «Ich möchte mit dir auf meinen Niki anstoßen», sagte sie feierlich, «er hätte heute Geburtstag, einen runden, seinen Fünfzigsten!» Nun war Emilio doch überrascht. Deshalb war er hier? Während er mit Theresa anstieß, rief er
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