Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
geöffneten Augen!
Emilio räusperte sich. Nun hatte er im Halbschlaf doch über sein Schicksal nachgedacht. Das wäre nicht nötig gewesen, die Kopfschmerzen waren unangenehm genug. Die Tür ging auf, und Frank betrat den Raum, leider nicht mit der gebotenen Zurückhaltung. Emilio langte sich an die Schläfen.
Warum er nicht am Computer säße und arbeitete, wollte Frank mit einem Grinsen wissen. Emilio sah ihn verständnislos an. Er halte es mit den alten Griechen, antwortete er, dort galt der Müßiggang als größte Tugend, Arbeit sei etwas für Frauen und Sklaven.
Falsche Antwort, konterte Frank, jedenfalls für einen, der mit der Miete drei Monate im Verzug sei.
Emilio richtete sich stöhnend auf und hob vier Finger. Leider könne er den nächsten Monat auch nicht bezahlen, das wäre schon jetzt abzusehen.
Frank schüttelte den Kopf. Als arbeitender Sklave könne er diese Form des Müßiggangs nur schwer akzeptieren. Ob Emilio denn keine neuen Aufträge habe?
Emilio verneinte. Wenn man von der alten Tante absehe, aber auf die könne er verzichten.
Welche alte Tante, fragte Frank.
Nun, das sei keine richtige Tante, relativierte Emilio, vielmehr eine Freundin seiner verstorbenen Mutter, als Kind habe er «Tante» zu ihr gesagt. Die alte Dame lebte in Südtirol, sie habe vor einigen Tagen angerufen, sie wolle ihn heute Nachmittag im Hotel Bayerischer Hof treffen, sie habe ein Problem und brauche Hilfe.
Frank nickte auffordernd. Das höre sich doch gut an. Vielleicht sei das ein neuer Auftrag, und mit dem Vorschuss könne er die Miete bezahlen.
Emilio winkte ab. Was könne die alte Dame schon für ein Problem haben? Er habe keine Lust, einen verschwundenen Königspudel zu suchen. Oder sich mit einem Friseur anzulegen, der ihr die Haare falsch gefärbt habe. Nein, er würde dankend auf dieses Gespräch verzichten, ihr eine Visitenkarte mit seiner freundlichen Absage übermitteln und stattdessen im Englischen Garten spazieren gehen.
Genau das würde Emilio nicht tun, protestierte Frank entschieden. Als Freund und Gläubiger ausstehender Zahlungen bestehe er darauf, dass Emilio den Termin wahrnehme. Außerdem sei er das seiner guten Kinderstube schuldig, das mache man nicht, einer alten Nenntante einen Korb geben. Eine Visitenkarte mit einer freundlichen Absage, ob er denn spinne.
Emilio sah seinen Freund zweifelnd an. Dann gab er sich einen Ruck. Nun gut, erklärte er widerstrebend sein Einverständnis, er könne ja mal hingehen und mit der alten Dame einen Orangenlikör trinken. Vielleicht helfe der gegen Kopfschmerzen.
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2
Man sollte meinen, es wäre schön, viel Zeit in einer «Opera» in Mailand verbringen zu dürfen. Man denkt an die ehrwürdige Scala, assoziiert Opern von Verdi, träumt von Rigoletto oder Aida. Aber weit gefehlt. Allenfalls hätte Nabucco noch einen gewissen Bezug, dies aber allein aufgrund des Gefangenenchors. Denn in der «Opera» im Süden der lombardischen Metropole hat es keinen Mangel an Gefangenen. « Va, pensiero, sull’ali dorate … Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht …» Hinter den hohen grauen Mauern der Justizvollzugsanstalt, die ironischerweise «Opera» genannt wird, verbüßen die Häftlinge meist längere Haftstrafen – und es sind nur die Gedanken, denen es gestattet ist, davonzufliegen.
Die Casa di Reclusione , die zudem im Ruf stand, der größte Mafia-Knast der Welt zu sein, war ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem Marco Giardino die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Aber heute war es so weit, er machte seine ersten Schritte zurück in die Freiheit.
Hinter ihm schlossen sich die schweren Eisentore der Justizanstalt. Er blieb stehen, stellte seinen Koffer ab und atmete tief durch. So also roch die Luft außerhalb der Gefängnismauern – er hatte es fast vergessen. Marco war sportlich angezogen, mit einer beigen Leinenhose, weißem Poloshirt und einem Pulli locker über die Schultern gehängt. Es war ein strahlend schöner Tag in Mailand. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf. Wäre nicht seine blasse Gesichtsfarbe gewesen, hätte man ihn für einen Urlauber halten können, der gerade vom Comer See kam oder von Capri.
Marco sah sich um. Es war niemand da, ihn abzuholen. Er durfte sich nicht beklagen, er hatte es so gewollt. Niemand seiner Bekannten oder von der Familie wusste, dass er heute entlassen wurde, vorzeitig, wegen guter Führung. Außerdem war es weit von Bozen hierher. Er nahm seinen Koffer, der nicht schwer
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