Tod sei Dank: Roman (German Edition)
Ehepaare weißer Hautfarbe mit ein bis drei Kindern, die ausnahmslos die ausgezeichneten Schulen des Viertels besuchten. Alle Kirchgänger gingen in dieselbe Kirche der Church of Scotland. Alle Jungs gingen in dasselbe Pfadfinderzentrum. Alle Mädchen trugen die braune Eule, das Abzeichen der Girl-Scouts. Alle Anzugträger nahmen denselben Zug in die Stadt. Alle Jogger drehten dieselbe Viermeilenrunde entlang der Grenze zum nächsten Postzustellbereich. Warum sollte sich jemand dorthin wagen, wenn der Supermarkt, das Postamt, der Weinladen, der Blumenhändler, der Park und das Sonnenstudio allesamt in wenigen Gehminuten erreichbar waren? Warum sollte man abends in die Stadt fahren, wenn man zu Hause mit den Nachbarn essen, trinken, flirten konnte? Und so kam es, dass jeder jeden kannte. Und dass jeder alles über alle wusste. Und so kam es auch, dass Will in jenem Sommer das Stadtgespräch war.
Eine Woche nach Cynthias Flucht nahte für Georgie und Kay der erste Tag im Kindergarten. Auf dem Rückweg kam Will – der gerade mit tränenfeuchten Augen die Fotos begutachtete, die er mit seiner Digitalkamera gemacht hatte – an einer Gruppe attraktiver Jungmütter und Hausfrauen vorbei, die synchron in Gesten der Anteilnahme ausbrachen, sobald sie ihn kommen sahen: ein kollektives Hängenlassen der Schultern, ein allgemeines Nicken und Seufzen. Er ging so schnell wie möglich an ihnen vorbei, aber eine lockige Blondine mit Laufschuhen und einer dreiviertellangen Jogginghose rannte ihm hinterher. »Will«, sagte sie, »ich heiße Linda.«
»Hallo.«
»Wir haben … Ich habe von der Sache mit Ihrer Frau gehört … Und ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich gern alles in meiner Macht Stehende tun würde, um Ihnen zu helfen.«
Kannst du mich daran erinnern, Luft zu holen?, dachte er. Kannst du dich verpissen?
»Georgie ist in derselben Gruppe wie meine Bethanay. Ob die beiden nach dem Kindergarten vielleicht zum Spielen vorbeikommen wollen? Damit Sie mal ein bisschen verschnaufen können?«
So knatschig Georgie an diesem Morgen auch gewesen war –sie wollte doch bei Bethanay zu Hause spielen. Also folgte Will noch am selben Nachmittag Linda, ihrer hässlichen Tochter mit dem schwülstigen Namen und ihrem überdrehten Knaben im Krabbelalter zu deren Haus, das nur einen Block von seinem entfernt lag.
»Kommen Sie mit auf einen Kaffee rein.« Das war keine Frage, und weil er nicht Nein sagen konnte, folgte er ihr durch die Eingangsdiele (die bis auf einen größeren Eichentisch identisch mit seiner eigenen war) in die Küche (die bis auf die neuen Einbauelemente, die Cynthia vermutlich bei Magnet bestellt hatte, ebenfalls identisch mit seiner war). Er nippte an seinem Kaffee und fragte sich, warum um alles in der Welt diese Frau glaubte, dass es hilfreich sei, wenn sie ihn davon abhielt, nach Hause zu gehen, Abendessen zu machen, seine Arbeit zu Ende zu bringen, die Wäsche zu waschen und die Lunchpakete für den nächsten Tag zu machen.
Lindas Mann war viel auf Reisen, was dazu führte, dass Lindas extragroßes Ehebett normalerweise zur Hälfte leer war. Sie wies auf diesen Umstand während einer ausgiebigen Führung durch das Haus hin (mit Ausnahme eines Zweizimmer-Dachausbaus war alles genauso wie in seinem eigenen Haus). Aber sie sei Optimistin und betrachte ihr Bett als halb voll, sagte sie. Noch ehe Will an diesem Nachmittag ging, wusste er, dass er derjenige war, mit dem sie das Bett zu füllen hoffte. »Sie dürfen nicht zulassen, dass Sie vereinsamen«, sagte sie zum Beispiel, nachdem sie ihn auf das Original-Ölbild über dem extragroßen Ehebett hingewiesen hatte, und sie fügte hinzu: »Vergessen Sie nicht: Ich bin gern für Sie da, wenn es Ihnen nicht gut geht. Wenn Sie etwas brauchen, egal was .. .« Und so weiter und so fort.
Um halb sieben brachte Will die Mädchen nach Hause und kam zu dem Schluss, dass er niemals wieder mit einer dieser Mütter sprechen dürfe, vor allem nicht mit Linda. Als er die Haustür aufschloss, fingen beide Mädchen zu weinen an, weil sie müde, hungrig und überdreht waren. Wo ist Mami? Warum ist sie noch nicht nach Hause gekommen?
Will war wie immer ehrlich zu den Kindern. Er forderte sie auf, sich hinzusetzen und sagte ihnen dann wieder einmal, dass ihre Mami an einem weit entfernten Ort sei und ein Suchtproblem habe.
»Was heißt das?«, fragte die dreijährige Kay.
»Das heißt, ihr Körper sagt ihr, dass sie schlimme Sachen braucht.«
»Was für schlimme Sachen?«,
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