Tod sei Dank: Roman (German Edition)
Kinder schlafen gegangen waren, verstand Will sogar ihre Beweggründe und bewunderte sie dafür. Sie war besser als er. Sie hatte gehen müssen.
Die Bestätigung traf zwei Wochen nach ihrem Weggang mit der Post ein: eine DVD von Cynthia. Obendrauf hatte sie »Mir blieb keine andere Wahl« gekritzelt. Will rupfte Balamory aus dem DVD – Player (und brachte Georgie damit zum Weinen), legte die DVD seiner Frau ein und drückte auf »Play«.
Aufnahmen von ihm, im Rohschnitt.
Es ist Morgen, die Badezimmertür ist geöffnet. Will steht vor dem Klo und pinkelt. Wie immer quetscht er dabei einen Furz aus seinem schwach behaarten Hintern, was den Pissestrahl kurz unterbricht.
Er sitzt vor der Glotze und zappt sich durch die Sender. Die Babys weinen, aber er scheint es nicht zu bemerken. Sein Mund steht halb offen. Ein Curryfleck ziert sein T-Shirt. Sein blondes Haar ist nicht mehr so dicht, wie es einmal war, aber irgendwie schafft er es immer noch, es in alle Richtungen abstehen zu lassen. Er hat Bartstoppeln im Gesicht. Und seine Stirn: Da würde nur noch Botox helfen. Baden müsste er auch mal wieder.
Er schneidet Zwiebelwürfel und braucht dafür verdammt lange.
Er schnarcht im Bett. Die Decke kann seinen Bierbauch nicht verbergen.
Er sagt: »Hallo, Hübsche!«
»Was liebst du an mir?«, fragt sie hinter der Kamera.
»Ähm …«, sagt er. »Alles.«
»Nein, was ist es genau, im Besonderen?«, fragt sie.
»Alles an dir. Du bist klasse«, sagt er.
Er stellt die Musik leiser, dann etwas lauter, dann etwas leiser.
Er liest das Feuilleton, nickt erst und schüttelt dann den Kopf.
Er räumt den Geschirrspüler ein und braucht dafür verdammt lange.
»Hallo, Hübsche!«, sagt er.
»Sprich mit mir«, sagt sie. »Erzähl mir was.«
»Ähm … worüber würdest du denn gern sprechen?«, entgegnet er. »Was würdest du mir gern erzählen?«
Er sucht im Schrank nach einem Hemd und braucht dafür verdammt lange.
Zubereitung eines Sandwiches: Schinken oder Salami?
Erneutes Furzen auf dem Klo.
Erneutes Schnarchen.
Erneutes Zappen vor der Glotze.
Erneutes Nicken und Kopfschütteln beim Zeitungslesen.
Autsch! Will stoppte die DVD und legte das weitaus weniger verstörende Balamory ein.
Er hatte kapiert. Wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte er sich selbst sitzen gelassen. Nun war es aktenkundig, dass er der langweiligste, abstoßendste, trotteligste, unentschlossenste Mensch auf dem ganzen Planeten war. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er sich in einen Fünfundsiebzigjährigen verwandelt – einen langweiligen Fünfundsiebzigjährigen obendrein, der nicht einmal interessante Geschichten aus dem Sinai-Krieg erzählen konnte oder wertvollen Nippes besaß.
Die Aufnahmen erzeugten in seiner Magengrube eine tief sitzende Übelkeit. Wer war er eigentlich? Wie konnte er solche Abscheu hervorrufen – in Cynthia, klar, aber vor allem in sich selbst? Er hatte sich noch nie so umfassend gehasst.
Will brachte die Mädchen ins Bett, erzählte ihnen eine Gutenachtgeschichte und spielte die DVD dann noch einmal ab. Und noch einmal. Stoppte, spulte zurück und spielte den umfassenden Reinfall, der sich da vor seinen Augen zeigte, noch einmal ab – den Mann ohne Ziele, ohne Rückgrat, ohne Antrieb, ohne Stolz, ohne Frau, ohne Haargel. Den Mann ohne alles.
Er weinte.
Sie hatte sich nicht mal verabschiedet. Wäre das denn gegangen? Ein herzzerreißender, aber schöner Abschied, so tränentreibend und schnulzig wie »Time to Say Goodbye«?
Er legte die CD ein und hörte sie sich an. Wieder und wieder. Mindestens einen Abschied wäre sie ihm schuldig gewesen.
Was für ein Idiot er gewesen war, dass er das alles nicht hatte kommen sehen. Dass er angenommen hatte, sie würde ihn lieben, bloß weil er sie liebte. Dass es der Stress und zwei Gläser Wein seien, deretwegen sie jeden Abend so weggetreten gewirkt hatte. Dass sie Geld für die geplante neue Küche und das Badezimmer zurücklegte, statt in Wahrheit alles in den nächsten Schuss zu investieren. Dass sie loszog, um ein Musikvideo aufzunehmen oder mit Janet zu quatschen, statt mit Heath in dessen Wohnung in Dennistoun zu vögeln.
Dieser verdammte Heath.
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Kapitel drei
Wills Wohnviertel, ein Meer aus rotem Sandstein, war von den umliegenden Wohnvierteln durch drei Hauptverkehrsstraßen und eine Bahnlinie getrennt. Mehrere Hundert identischer Reihenhäuser aus den 1920er-Jahren reihten sich an sanft gehügelte Alleen. All diese Häuser beherbergten wohlhabende
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