Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
anstrenge. Aber das war ein Irrtum. Ich will Ihnen sagen, wie er war. Er war
ein gut aussehender Junge, fröhlich, er lachte gern, die Welt war für ihn ein wunderbarer Ort, das Leben eine Entdeckungsreise.
Von der dunklen Seite des Lebens wusste er nichts. Ich habe ihm nichts davon |83| erzählt. Das hätte ich tun sollen. Denn als er sie entdeckte, war ich nicht da, um ihm helfen zu können, und dadurch hat sich
alles verändert.«
Es schwang kein Selbstmitleid in ihrer Stimme, nur gefasste Nachdenklichkeit.
»Er hat einen weichen Kern, den hat er noch immer. Bei der Polizei haben sie ihn damit aufgezogen, er sei zu weich für die
Arbeit, und das gefiel ihm, wie es uns allen gefällt, wenn wir anders sind. Und dann … ich war so froh, als er an die Universität
ging, er war so glücklich, so enthusiastisch, und ich war stolz auf ihn und wusste, sein Vater wäre es ebenfalls gewesen.
Doch das Leben geht manchmal seltsame Wege, er kehrte zur Polizei zurück, sein Mentor wurde direkt vor seinen Augen erschossen,
und er glaubt, es sei sein Fehler gewesen. Damit änderte sich alles. Ich hatte ihn nicht auf Dinge wie den Tod und die menschliche
Fehlbarkeit vorbereitet. Davon bin ich überzeugt. Wenn er wieder an sich glauben könnte, wenn er noch einmal eine Chance bekommen
würde …«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, sie wollte ihr die Hand reichen. »Joan …«
»Dieser Anwalt, Kemp, er sieht immer so mürrisch aus, aber ich glaube, er hat ein weiches Herz, er weiß, dass mein Kind nicht
schlecht ist. Es gab andere, aber die ließen ihm kaum eine Chance. Und ich weiß nicht, wie viele Chancen er noch bekommt.
Diese Sache mit dem Testament … Zet schafft das. Es ist so wichtig für ihn.«
»Ich …«
»Ich will nichts entschuldigen.«
»Ich weiß.«
|84| »Er darf nicht erfahren, dass ich hier war.«
»Das wird er nicht.«
Das Telefon klingelte. Hope runzelte die Stirn.
»Gehen Sie bitte ran.«
»Es muss dringend sein. Normalerweise werde ich nicht gestört.« Sie nahm ab. »Ich bin gerade in einer Besprechung, Marie.«
»Mr. van Heerden ist wieder da, Hope. Er sucht nach einem Personalausweis.«
Sie schloss die Augen. Der Tag konnte nicht schlimmer werden. »Sagen Sie ihm, er soll bleiben, wo er ist. Erlauben Sie ihm
auf keinen Fall, ins Büro zu kommen.«
»In Ordnung, Hope.«
»Ich komme.« Sehr sacht legte sie den Hörer auf.
»Zatopek ist an der Rezeption.«
»Verdammt«, entfuhr es Joan van Heerden.
»Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Sie stand auf, ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig. Im Gang war niemand zu sehen.
Sie schloss die Tür hinter sich und schritt zum Empfangsbereich, wo er ungeduldig wartete. Er trug trockene Sachen, wie sie
sah, Jeans, Turnschuhe.
Er sah sie kommen. »Ich suche Smits Personalausweis.«
»Den hat Wilna van As. Soll ich sie anrufen?«
»Ich fahre hin. Ich will den Laden sehen.« Er sah sie nicht an. Er starrte auf das Piet-Grobler-Gemälde an der Wand. Eines
ihrer Lieblingsbilder.
Mann mit Schreibblock verzehrt eine Aprikosenstulle
.
»Darf ich fragen, warum Sie das Dokument brauchen?«
»Das Morddezernat hat die falsche Personalausweisnummer. Ich will mir die richtige besorgen.«
|85| »Wird uns das weiterbringen?«
Er sah an ihr vorbei. »Ich werde erfahren, wo er geboren wurde. Wer seine Eltern waren. Sein Leben vor van As.«
»Ein Anfang.«
»Ich gehe jetzt.«
»Gut.« Und dann, als er sich umwandte, fügte sie leise, einem Impuls folgend, hinzu: »Zatopek.«
Er blieb an der Glastür stehen. »Dieser verdammte Kemp«, hörte sie ihn sagen, dann war er verschwunden. Zum ersten Mal seit
dem Mittagessen lächelte sie. Der Tag konnte nicht …
Die Rezeptionistin hielt ihr den Telefonhörer hin. »Kara-An Rousseau ist am Apparat.«
Sie nahm den Anruf an Ort und Stelle entgegen. »Hallo.«
»Hallo, Hope. Ich hätte gern die Telefonnummer von deinem Privatdetektiv.«
»Von van Heerden?«
»Ja, der heute ins Restaurant kam.«
»Er … ist im Moment völlig ausgebucht.«
»Nein, nicht für einen Job.«
»Nein?«
»Er ist sehr, sehr sexy, Hope. Hast du das nicht bemerkt?«
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Meine Mutter dachte, es wäre Nagels Tod gewesen, der mein Leben so durcheinander gebracht hatte. Alle dachten, es wäre Nagels
Tod gewesen.
Warum addieren die Menschen, wenn sie über das Leben anderer nachdenken, immer nur einige große Zahlen, um zu einem Urteil
zu gelangen? Wenn sie jedoch ihr eigenes Leben
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