Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
fragte er sich, warum er das gesagt hatte, weil …
»Und dann?« Ungeduld.
»Überholte uns, krachte in uns rein, rammte die Frontpartie. Dann überschlugen wir uns.«
|334| »Dieser Arsch Steven. Wollte nie einen Sicherheitsgurt anlegen. Und dann?«
Sag nichts, sag nichts.
»Kommen Sie, van Heerden, was dann?«
»Der Krankenwagen …«
»Es gibt Augenzeugen, die sagen, ein Mann oder eine Frau mit langem blonden Haar sei von Ihrem Wagen weggelaufen, in einen
großen cremefarbenen Pick-up gestiegen und weggefahren.«
Sag nichts.
Er wollte hier raus, seine Mutter beschützen, er konnte seine Augen nicht mehr offen halten, er hörte Stimmen, Brits, der
seinen Namen rief, andere, hörte die Stimme seiner Mutter, Hope, Nougat O’Grady, zwang sich, aufmerksam zu sein, die Augen
zu öffnen, aber er sah nichts mehr.
Mitten in der Nacht wachte er auf und hörte ihren Atem, dann blickte er auf und sah seine Mutter am Bett in der Dunkelheit,
Mondlicht fiel durch das Fenster.
»Ma.« Seine Stimme war kaum zu hören.
»Ja, mein Sohn«, flüsterte sie.
»Ma, du musst hier bleiben.«
Sie nahm seine Hand. »Ich werde hier bleiben.«
Zu ihrer eigenen Sicherheit, meinte er. Nicht seinetwegen.
Mit der anderen Hand strich sie ihm durchs Haar, streichelte seinen Kopf. »Schlafe. Ich bin hier.«
Seine Schulter und sein Nacken schmerzten, nicht schlimm, nur der Schmerz der überdehnten Muskeln. Er wollte fragen, wo Hope
und Carolina de Jager waren, rührte sich aber nicht. Er war acht oder neun Jahre alt gewesen, als er das |335| starke Fieber hatte, Meningitis, dachten die Ärzte, fanden aber nie heraus, was es wirklich war, und seine Mutter hatte fünf
Tage lang neben seinem Bett gesessen und ihm die Hand gehalten und seinen Kopf gestreichelt und zwischen den Umschlägen und
den Medikamenten und den Fieberträumen mit ihm geredet, und er dachte, nichts habe sich geändert, es gab immer noch nur sie
beide, und alles hatte sich geändert, und dann schlief er wieder ein.
|336| 36
Ich reite noch etwas auf meiner Geschichte herum und verweile noch etwas beim Mord an Baby Marnewick, weil er mein berufliches
Erwachsenwerden, meinen Zenit bezeichnete, die fünfzehn Minuten, in denen ich berühmt war.
Er ist aber auch das letzte Kapitel in der Geschichte des Zatopek van Heerden, des Unschuldigen, des Gerechten, des Guten.
Danach werde ich den Prolog der Verdammnis schreiben müssen, und ich schrecke davor zurück, denn allein der Gedanke daran
erfüllt mich mit Widerwillen — nicht mit Angst, nicht mehr mit Angst.
Daher will ich allmählich zum Ende kommen — allerdings ohne das spannungsgeladene Verzögerungsmoment eines zweitklassigen
Thrillers. Die Wahrheit war nämlich sehr viel trister.
Victor Reinhardt Simmels Spur verlor sich im Jahr 1980, den Grund dafür fand ich schließlich bei Intercontinental Mining Support
(oder IMS, wie die Firma genannt wurde). IMS übernahm 1987 Deutsche Maschine, bewahrte die alten Personalakten aber nicht
auf. Erst einer von Simmels Ex-Kollegen, der im Firmensitz in Germiston arbeitete, lieferte mir die entscheidende Information:
Der Kreppbandmörder war Anfang 1981 nach Australien ausgewandert.
»Er sagte, er mache das wegen der politischen Situation hier.«
|337| Ich fragte ihn, woran er sich bei Simmel erinnern könne. »Nicht sehr viel. Er redete viel, und er war ein Lügner.«
Natürlich war es nicht die politische Situation gewesen, die Simmel zur Flucht getrieben hatte, sondern die polizeilichen
Ermittlungen. Nach den letzten zwei oder drei Morden kam ihm die Polizei wahrscheinlich zu nahe. Und daher flog ich also mit
der Erlaubnis des Professors nach Australien, und die Universität von Südafrika übernahm die Kosten. Wir — Superintendent
Charley Edwards von der Kriminalpolizei in Sydney und ich — machten uns auf, Victor Reinhardt Simmel in Alice Springs zu verhaften,
im trockenen, staubigen Northern Territory: ein ganz und gar sensationsloses Ereignis, alles andere als ein Höhepunkt in meiner
Karriere. Wir klopften an die Tür seines Hauses, baten den kleinen hässlichen Mann, uns zu begleiten, und er kam widerstandslos
mit.
Im unerträglich heißen Befragungsraum stritt Simmel zunächst alles ab. Doch schließlich, nachdem er tagelang gelogen und Ausreden
aufgetischt hatte, sagte er, indem er sich wie die meisten Serienmörder von sich selbst distanzierte, dass »der andere Victor
Reinhardt Simmel, der Böse«,
Weitere Kostenlose Bücher