Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
schreckliche Dinge getan habe — und erzählte uns von seiner Blutspur, die sich durch Südafrika,
Australien und sogar Hongkong zog.
Ich fragte ihn nach Baby Marnewick, aber er, der »böse Victor«, konnte sich kaum noch an sie erinnern. Ich musste ihm erst
die Fotos zeigen, die vergilbten Akten, ich musste sie beschreiben und ihn daran erinnern, dass er ihr vom Einkaufszentrum
aus gefolgt sei, sie zwei Tage beobachtet, erniedrigt und schließlich ermordet hatte.
|338| Und ich suchte nach der Absolution in seinem Wahnsinn — und fand sie schließlich auch. Ich musste danach graben, denn er war
ganz augenscheinlich kein Monster, nur das sich selbst überschätzende, unattraktive, kaputte Produkt einer beiläufigen sexuellen
Begegnung zwischen einer Schlampe von Mutter, die ihn nicht wollte, und einem Vater, den er nicht kannte; dazu kam, dass er
sein Leben lang wegen seiner Familienverhältnisse, seiner geringen Größe, seiner Akne und seiner sozialen Herkunft ausgelacht
worden war.
Siebenunddreißig Frauen. Siebenunddreißig Opfer, die den Preis für seinen Zorn zahlen mussten. Die für die sozialen Schulden
einer Gemeinschaft aufkommen mussten, der es leichter fällt, Menschen zurückzuweisen als sie anzunehmen, die es vorzieht,
sich nicht einzumischen.
Sie, ich, jeder von uns hatte seinen Anteil an diesen siebenunddreißig Morden. Weil unser Nichtstun uns zu schlechten Menschen
machte.
Meine Absolution hatte ihren Preis.
Und eine Belohnung. In Australien war ich ein Held. »Wissenschaftlicher Spürhund treibt Serienmörder in die Enge«, lautete
die Titelzeile des
Sydney Morning Herald,
womit eine ganze Welle von Zeitungsberichten, Fernsehsendungen und Radiointerviews losgetreten wurde. Und in Südafrika war
ich nach meiner Rückkehr zwei Wochen lang der Liebling der Journalisten. (Aber wie schnell sie doch vergessen. Nur acht Jahre
später, beim Fall von Wilna van As, kam kein einziger Journalist darauf, die Verbindung herzustellen — erst ganz zum Schluss
passierte das.)
Ich kann nicht verhehlen, dass ich jeden Augenblick der |339| Aufmerksamkeit genossen habe. Plötzlich war ich jemand, ich war erfolgreich, ich war gut. Gut.
Und wenn das Ihrem Gedächtnis noch immer nicht auf die Sprünge geholfen hat: Victor Reinhardt Simmel beging Selbstmord, bevor
er ausgeliefert werden konnte. Mit einem geschärften Besteckmesser schlitzte er sich in seiner Zelle in Sydney die Handgelenke
auf. Nicht wie man es in Büchern liest oder im Fernsehen sieht, indem er sich brav der Breite nach die Haut aufritzte, sondern
durch teuflisch lange, längsseitige Schnitte, eben so, wie man es in Wirklichkeit macht.
Mein Leben ging weiter. Mein Leben änderte sich. Der letzte große Wendepunkt, der Prolog zu meinem Niedergang, ereignete sich
zwei Wochen nach Abgabe meiner Doktorarbeit. Ich war in Kapstadt und hielt für das Morddezernat in dessen öder Zentrale in
Bellville South ein Seminar über das Profiling von Serienmördern. Und Colonel Willie Theal, der damalige Leiter, kam danach
auf mich zu.
»Komm nach Hause«, sagte er. »Komm und arbeite für mich.«
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|341| Mittwoch, 12. Juli
Noch ein Tag
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Um fünf Uhr wachte er auf, seine Mutter schlief noch im Stuhl neben dem Bett, er rührte sich nicht und dachte, dass er es
nicht hatte kommen sehen, versuchte sich die Augenblicke auf der N7 wieder vor Augen zu führen: den Pick-up neben ihm, nur
ein weiteres Fahrzeug, das überholte, er fuhr schnell, der Pick-up noch schneller, und dann krachte er gegen ihn, gegen die
Stoßstange und das rechte Vorderrad. Wahrscheinlich war sofort etwas beschädigt worden, denn er verlor die Kontrolle, o Gott,
wie schnell sie sich überschlagen hatten, der bewusstlose Steve Mzimkhulu hatte kein einziges Wort mehr von sich gegeben,
keinen Laut, nur noch das splitternde Glas und das Kreischen des Metalls auf dem Asphalt, der sich überschlagende Wagen, der
rollte, rollte, dann lag der Corolla auf dem Dach, und er hing im Sicherheitsgurt und hörte die Schritte und die Stimme von
Bushy Schlebusch.
Du hast eine Mutter, Polizist. Hörst du mich? Du hast eine Mutter.
Woher wusste er das?
Wir hätten das verdammte Testament schon längst verbrennen sollen.
Wir …
Es existierte also noch. Irgendwo gab es das Dokument noch, aber niemand hatte es erwähnt. Nicht die
Burger
, nicht in den Folgeartikeln am Tag darauf, nicht gegenüber dem |344| Militärischen
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