Todes Kuss
sollte.“
„Wenn es Ihnen recht ist, komme ich bei Gelegenheit wieder und schaue mich einmal in der Bibliothek um. Bestimmt hat er es irgendwo dort aufbewahrt.“
Ich nickte. Und meine Mutter nutzte die Gelegenheit, das Thema zu wechseln.
Sie war der Überzeugung, zu viel Bücherwissen schade dem Ansehen einer jungen Dame. Ich lauschte der Unterhaltung zwischen ihr und Lord Palmer nur mit einem Ohr. Denn in Gedanken war ich bereits dabei, Reisevorbereitungen zu treffen.
Nachdem meine Gäste sich verabschiedet hatten, holte ich mir Baedekers Parisführer aus der Bibliothek und setzte mich mit dem Buch ans Fenster. Als mein Blick zufällig nach draußen wanderte, entdeckte ich auf einer der Bänke, die man am Berkeley Square aufgestellt hatte, den Mann mit der Narbe. Sein Anblick ließ mich erschauern.
„Das müsste alles sein“, verkündete Colin Hargreaves. „Die Fahrkarten für den Zug und die Fähre habe ich Ihnen gegeben. Im Hotel Le Meurice ist ein Zimmer für Sie reserviert. Und Monsieur Beaulieu, der Hotelmanager, wird Sie persönlich vom Bahnhof abholen.“
Vier Tage waren vergangen, seit ich mich so spontan entschlossen hatte, nach Paris zu fahren. Statt meine Bediensteten mit der Organisation der Reise zu beauftragen, hatte ich eine Nachricht an Mr Hargreaves geschickt. Der hatte sich schnell und zuverlässig um alles gekümmert.
„Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln.
Offen erwiderte er meinen Blick – eine Angewohnheit, die manchmal etwas beunruhigend wirken konnte. „Tatsächlich hat Ihre Bitte mich erstaunt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie London so bald verlassen würden.“
„Ich auch nicht.“ Unauffällig beobachtete ich, wie er sich mit der Hand durch sein leicht zerzaustes Haar fuhr. „Doch plötzlich wurde mir klar, wie sehr mich die Vorstellung belastete, bald wieder den verschiedensten gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen zu müssen.“
Hargreaves begann zu lachen, und ich sah mich gezwungen, eine Erklärung hinzuzufügen. „Bitte, missverstehen Sie mich nicht. Natürlich bietet das gesellschaftliche Leben viel Angenehmes. Doch im Moment fühle ich mich …“
Er lachte jetzt so laut, dass ich mitten im Satz abbrach und dann leicht konsterniert fragte: „Was amüsiert Sie denn so?“
„Dass Sie sich solche Mühe geben, höflich zu sein und den Schein zu wahren. Wahrhaftig, kein vernünftiger Mensch könnte sich darauf freuen, monatelang an nichts anderem als an langweiligen Tee- und düsteren Dinnergesellschaften teilzunehmen, wie sie für eine Witwe als angemessen gelten. Ich verstehe sehr gut, dass Sie Paris vorziehen.“
Ich seufzte. „Es ist nicht immer leicht, sich an die vorgegebenen Regeln zu halten. Trotzdem möchte man auch nicht ausgeschlossen werden, nicht wahr?“
„Mit Freunden eine Ausfahrt in den Hyde Park zu unternehmen kann sehr vergnüglich sein“, meinte er zustimmend. „Und wer würde schon freiwillig auf einen großen Ball verzichten?“
„Ich fürchte, Sie haben mich durchschaut. Darf ich Ihnen diesmal etwas zu trinken anbieten, Mr Hargreaves?“
„Danke, gern.“ Er stand auf, trat zu dem Tischchen, auf dem mehrere Karaffen und Gläser standen, und goss sich etwas Whisky ein. Genüsslich nahm er einen Schluck.
„Schenken Sie sich ruhig noch einmal nach“, sagte ich. „Seit Monaten hat niemand mehr davon getrunken. Ich weiß gar nicht, was ich mit ihm machen soll.“
„Sie könnten ihn selbst trinken.“
„Das würde meine Mutter in den Wahnsinn treiben.“ Die Vorstellung gefiel mir. „Nie würde sie mir etwas anderes als ein Glas Sherry gestatten. Leider mag ich Sherry überhaupt nicht.“
Lächelnd füllte Hargreaves ein zweites Glas und hielt es mir hin. „Bitte!“
Ich kam mir beinahe ein bisschen verrucht vor, als ich am Whisky nippte. Dabei zuckte ich zusammen. „Das ist ja scheußlich!“
„Dann müssen wir uns wohl etwas anderes einfallen lassen, um Ihre Mutter in den Wahnsinn zu treiben.“
„Vielleicht sollte ich es mit Port versuchen. Davis erwähnte, dass Philip stets nur den besten gekauft hat und dass der Weinkeller voll davon ist.“
„Ja, ich bin oft in den Genuss seines wirklich hervorragenden Portweins gekommen. Überhaupt haben wir viele angenehme Stunden in seinem Haus verbracht.“ Er betrachtete mich nachdenklich. „In diesem Raum hat Philip zum ersten Mal über Sie gesprochen. Er gestand mir, dass er sich auf Lady
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