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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Talabanis Kampf muss eine ganze Weile gedauert haben.«
    »Das hatte ich mir gedacht. Die Punktblutungen rings um das Auge, das verfärbte Gesicht   …«
    Würgemale gaben recht detailliert Auskunft über den Menschen, der sie dem Opfer beigebracht hatte, so hatte Wencke es in den USA gelernt. Wenn der Mord seitlich und ohne viel Kraftaufwand geschieht, dann wird der Blutrückfluss vom Hirn auf diese Weise gestoppt. Bis die komplette Zirkulation zum Stillstand kommt, dauert es weit mehr als drei Minuten. In dieser Zeitspanne müssen die Hände gnadenlos den Hals zuschnüren. Es gibt also mehr als zweihundert Herzschläge lang die Chance, es sich anders zu überlegen. Doch der Mörder von Shirin Talabani hat diese Möglichkeit nicht ergriffen. Er muss mit Bedacht vorgegangen sein – Beruhigungsmittel im Tee, seidene Fesseln zur Sicherheit – aber auch voller Entschlossenheit. Wenckes Lehrbücher sahen derlei Fallcharakteristika in erster Linie für Rachemorde vor. Die Wut, die angestaute Aggression einer erlittenen Niederlage oder Demütigung schwelt lang genug, um dann endlich im Mord eine Lösung zu erfahren. Rachemörder erleben dabei nicht selten ein befreiendes Gefühl, ein Gefühl, das alle anderen Emotionen überflügelt. Ja, ein solches Motiv musste auch in diesem Fall vorgelegen haben, anders ließ sich diese Mischung aus fehlendem Mitleid und Unmittelbarkeit nicht erklären. Zudem sprachen alle Hinweise dafür, dass Täter und Opfer sich gut gekannt haben mussten. Wen also hatte Shirin Talabani so sehr verletzt, dass sie auf diese Weise sterben musste? War es tatsächlich ihr Bruder gewesen?
    »Das ist schon alles ganz furchtbar«, flötete die Anwältin seltsam unbekümmert. »Aber für meinen Mandanten wiederum ist es gut!«
    Jetzt verstand Wencke. »Sie meinen, wenn es Armanc Mêrdîns Hände gewesen wären, hätte das ganze anders ausgesehen?«
    »Immerhin hat er während seiner Haftzeit täglich den Fitnessraum besucht.«
    Wencke zeigte sich skeptisch. »Wenn bei einem Verbrechen ein großer Kraftaufwand nötig ist, schränkt das den Täterkreis ein. Umgekehrt bedeutet eine eher kraftlose Tat nicht zwangsläufig, dass man es mit einem Schwächling zu tun hat. Leider lassen sich aufgrund von Würgemalen nur schwer Rückschlüsse auf die Gestalt des Täters schließen. Was sagt denn die Polizei dazu?«
    »Was sollen diese Beamten schon sagen? Solange mein Mandant Stein und Bein darauf schwört, dass er der Täter ist, haben sie keinen Anlass, die Indizien allzu kritisch unter die Lupe zu nehmen.« Sie zuckte die Achseln, fast wirkte sie resigniert.
    »Aber hatte Armanc nach all den Jahren denn noch immer eine solche Wut?«
    Sie seufzte. »In unserem Kulturkreis verhält es sich anders mit der Zeit, müssen Sie wissen. Der Druck, eine Ehrverletzung zu rächen, wird immer gewaltiger, je länger das Ereignis zurückliegt. Sie haben recht, der Zorn auf die Schwester mochte schon lange verraucht sein. Doch das hat nichts mit dem unbedingten Willen zu tun, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Die Mêrdîns leiden noch immer darunter, dass Shirin eine Ehebrecherin ist. Es fühlt sich für sie an wie   …« Yıldırım musste ihre Hände zu Hilfe nehmen, um das Unerklärliche zu erklären. »…   wie ein Riss im Fundament, auf dem ihr Leben aufgebaut ist. Jeder Tag erscheint ihnen bodenlos. Es ist ihnen unmöglich, weiterzuleben, als wenn nichts geschehen wäre. Und diese Erschütterung ihrer Existenz zieht immer weitere Kreise, wirkt sich immer verheerender aus.« Inzwischen bewegte die Anwältin sich, als wolle sie einen dicken Gymnastikball umarmen. »Nur das Blut der Unehrenhaften kann diese Kluft kitten und die Stabilität wiederherstellen.«
    Wencke schwieg eine ganze Weile, schaute aus dem Fenster, beobachtete die Autos, die sich viele Meter weiter unten auf die Suche nach einer Haltegelegenheit machten. VWs und BMWs und Mercedes und Opel. Eine urdeutsche Szene, Parkplatzsuche in der Innenstadt. Und die Frau ihr gegenüber erzählte gleichzeitig etwas über Blut und Ehre und Wut und Wunden. Es kam Wencke vor, als befänden sie sich nicht bloß im dritten Stock, sondern unendliche Meilen weit von dem Leben da unten entfernt. Das deutsche Rechtssystem und die kurdischen Werte hatten so viel miteinander zu tun wie ein Jahreswagen mit einem fliegenden Teppich. Wie sollte sie in diesem Fall jemals auch nur ein kleines bisschen begreifen?
    »Kapitulieren Sie?«, erriet Yıldırım ihre Gedanken.

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