Todesbraut
erstreckte sich unter ihr eine andere Welt. Aus den grünen, rechtwinkligen Feldern war eine gelbbraun gepunktete Landschaft geworden, felsig an einigen Stellen, ein dürrer Fluss mäanderte sich hindurch.
»Ich muss eingeschlafen sein«, stellte sie verwundert fest, und es fühlte sich unpassend vertraut an, in diesem Moment ausgerechnet neben Peer Wasmuth zu sitzen, der wie immer in bleiches Beige gehüllt war und sich die Zeit mit dem Lösen komplizierter Sudokus vertrieben hatte.
Sie fuhr sich durch das zerzauste Haar, rieb sich etwas Leben ins Gesicht und gähnte. Es hatte gutgetan, diese zwei Stunden zum Nichtstun verurteilt gewesen zu sein. Jetzt ein Kaffee und eine kühle Dusche, dann wäre sie dem, was sie erwartete, vielleicht gewachsen.
»Rechtzeitig zum Landeanflug haben Sie die Augen geöffnet.« Wasmuth zeigte aus dem Fenster. »Sehen Sie, wir sindbereits über dem Marmarameer, und da hinten können Sie die Schwarzmeerküste erkennen.«
Wencke schluckte den Druck auf den Ohren weg. Eine Durchsage, die weder auf Englisch und schon gar nicht auf Türkisch zu verstehen war, ließ die Lautsprecher scheppern, und die stark geschminkten Stewardessen kontrollierten, ob die Gurte angelegt waren.
Weit unten wirkten die ersten Häuser der Stadt wie farblose Legosteine. Soweit Wenckes Blick reichte, erhoben sich Quader vom Grund, Wohnsiedlungen wie eckige Pilze auf staubiger Erde. Zum ersten Mal begriff sie ansatzweise, wie riesig diese Stadt war. Ihr Optimismus, in einer Zwölf-Millionen-Metropole einen sechsjährigen Jungen zu finden, schrumpfte antiproportional zu den gigantischen Ausmaßen Istanbuls.
»Und wir sehen in diesem Moment nur den europäischen Teil«, ergänzte Wasmuth, als habe er ihre Gedanken erraten. »Nach Nordosten hin erstreckt sich der größte Teil der Stadt. Sie wächst stündlich. Man muss sich nur vorstellen: Jeder siebte Türke lebt in Istanbul.«
»Das will ich mir lieber nicht vorstellen …«
»Viele Gegenden Anatoliens sind geradezu entvölkert, denn alle zieht es an den Bosporus. Das Gesetz sagt, alles, was ein Dach hat, darf nicht mehr abgerissen werden. Also kommen die Menschen aus Anatolien in der Nacht, rufen alle ihre Freunde und Verwandten zusammen und bauen bis zum nächsten Morgen ein Haus. Manchmal ist es eher ein Dach auf Stelzen, aber egal, sie haben dann das Recht, dort zu leben. Siedlungen, die auf diese Art entstanden sind, nennt man
Gecekondus
, was so viel bedeutet wie »über Nacht hingestellt«. Früher herrschten dort slumähnliche Zustände. Heute gehören die ersten
Gecekondus
zu den begehrtesten Wohngegenden dieser Stadt.«
Wencke wollte diese Geschichten gar nicht hören. Schonvorhin auf dem Hannoveraner Flugplatz hatte Wasmuth sie mit einem nicht enden wollenden Redeschwall bedacht, als wären sie gerade auf dem Weg in ihren Jahresurlaub. Sie hatte ihn einzig und allein deshalb mitgenommen, weil sie allein komplett aufgeschmissen gewesen wäre.
Natürlich hatte sie Bedenken: Peer Wasmuth steckte irgendwie drin in diesem Fall, und man konnte sich nicht ganz sicher sein, welche Rolle er darin spielte. War er vielleicht der zurückgewiesene Verehrer? Oder lediglich der engagierte Gutmensch? Oder schlichtweg ein Langeweiler, der zu viel Informationen speicherte und zu wenig Gelegenheit hatte, sie an den Mann zu bringen – und an die Frau noch weniger. Grundsätzlich harmlos, glaubte Wencke. Oder besser: sie hoffte es. Zudem war Wasmuth der Einzige, der so kurzfristig hatte einspringen können. Die Dolmetscher, mit denen das LKA sonst arbeitete, hatten alle abgewunken.
»Und wo sollen wir anfangen?«
Wasmuth ließ sich Zeit mit der Antwort. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, sah nach Vorfreude aus. Aber worauf? »Der Weg zur Blauen Moschee ist leicht zu finden, sie ist neben dem
Topkapı- Palast
und der
Hagia Sophia
das Touristenziel schlechthin. Die wunderbar blaugrünen Fliesen gaben der
Sultan Ahmed Camii
ihren Namen …«
»Herr Wasmuth, bitte, ich …«
»… in diesem gigantischen osmanischen Kuppelbau aus dem siebzehnten Jahrhundert können wir die Geschichte Istanbuls quasi einatmen …«
Wencke unterdrückte die bissigen Sätze, die ihr auf der Zunge lagen, denn sie hatten praktische Fragen zu klären. »Und was genau machen wir dort? Allen kleinen Jungen hinterherrennen?«
»Wir könnten jemanden nach dieser Hochzeit fragen, zum Beispiel den
hoça.«
»Den was?«
»So bezeichnet man in Moscheen den Pastor,
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