Todesbrut
Stunden hier auf dem Flughafen fest. Keiner weiß etwas Genaues. Die informieren uns nicht richtig. Erst dachten wir schon, es sei ein Anschlag, irgend so ein Terroristenscheiß, aber hier gehen kaum Maschinen ab. Nur Inlandsflüge. Ist das wegen der Vogelgrippe in den USA?«
Tim Jansen lachte bitter. »Nein, weil die Stones ihr zweihundertstes Abschlusskonzert geben … Wenn du mich fragst, Schwesterchen, die machen jetzt ganz Europa dicht. Glaube kaum, dass die euch noch reinlassen.«
»Ja, toll, mach mir Mut. Genau das brauch ich jetzt. Ich bin vier Stunden mit dem Bus bis hierher unterwegs gewesen. Glaubst du, ich fahr jetzt zurück und kaum sitz ich im Bus, geht hier mein Flieger vielleicht doch noch ab?«
»Ich würde dich ja gerne hier haben, aber …«
»Sei mal ruhig, die machen gerade eine Durchsage.«
Kira stand auf. Sie war aus dem Bild verschwunden, dafür erschien ein fetter indischer Bengel, der sein Gesicht vor die im Laptop eingebaute Kamera hielt und Grimassen schnitt.
»Du weißt genau, dass ich dich sehe, du kleiner Wichser. Kannst du mich auch verstehen?«
Der Junge versuchte, wie ein Vampir auszusehen, dem schlecht geworden war, weil er Rattenblut getrunken hatte. Er würgte und presste irgendwelche Laute oder Worte hervor, die Tim aber nicht verstand. Dann zeigte ihm der Junge den Stinkefinger. Entweder war das inzwischen ein internationales Symbol oder der Junge war schon öfter in Europa gewesen.
Tim zappte kurz durchs laufende Fernsehprogramm. Im Ersten lief jetzt ein Gespräch mit einem Trompeter, der angeblich sehr berühmt war, aber Tim, der Volksmusik hasste, kannte ihn nicht. Er wunderte sich nur, warum keine Sondersendungen ausgestrahlt wurden. Schon den ganzen Tag über nicht. Wer etwas wissen wollte über diesen Grippevirus und darüber, was draußen passierte, musste ins Internet ausweichen.
Schon war Kira wieder da, schob den Jungen weg und sagte schlecht gelaunt: »Auf ungewisse Zeit verschoben. Aber es soll in zwei Stunden eine Maschine nach London gehen. Ich werde versuchen, mich da auf die Warteliste setzen zu lassen. Die werden das ja wohl kostenlos umbuchen, nachdem wir hier so lange festhängen.«
»Toi, toi, toi!«
Tims Vater, Ubbo Jansen, betrat jetzt das Zimmer und ärgerte sich sofort. Erstens hasste er, der fleißige Geschäftsmann, es, wenn tagsüber das Fernsehgerät lief. Das hatte immer so etwas von Müßiggang an sich, als gäbe es nichts zu tun, und für jemanden wie ihn, der nie genug Zeit fand, um alles zu erledigen, was in seinen Augen getan werden musste, wirkte das wie eine Provokation. Zweitens sah er auf Tims Bildschirm das Gesicht seiner geliebten Tochter Kira und genau jetzt, als er hereinkam, schaltete Tim ab.
Er fuhr seinen Sohn sofort an. »Was ist? Ich versuch seit Stunden, Kira zu sprechen. Sie ruft nicht an und du …«
»Mit mir hat sie geredet. Sie sitzt in Mumbai fest. Die stornieren alle Flüge.«
Ubbo Jansen ballte seine rechte Faust. Er hatte als Jugendlicher in einem Verein geboxt und noch jetzt empfand er sein Leben als ständigen Kampf im Ring. Manchmal wurden die Regeln geändert, aber es blieb ein Kampf. Wer aufgab oder k. o. ging, hatte verloren. Er stand immer noch aufrecht und hoffte, nicht von seinen Gegnern und von den Punktrichtern erledigt zu werden.
Ubbo Jansen, zweiundfünfzig Jahre alt, zehn Punkte in Flensburg, trotz Konkurs und Scheidung still fighting. So sah er sich selbst. Einmal, vor vielen, vielen Jahren, als es ihm gut ging und seine Ehefrau noch nicht seine Ex war, als die Firma noch blendend lief und seine Konten gut gefüllt waren, da hatte er mit einem Freund Angelurlaub im Indischen Ozean gemacht. Gemeinsam nahmen sie am Hemingway-Cup teil und fischten auf Haie und Blue Marlins. Als sie einen heftigen Biss hatten, kämpften sie zwei Stunden, bevor der Fisch zum ersten Mal sprang und sich zeigte.
Alle Teilnehmer des Wettbewerbs waren längst wieder im Hafen und feierten ihre Fänge, doch die zwei meldeten sich immer wieder über Funk und hatten für ihre Mitbewerber nur eine kurze Durchsage: »Still fighting.«
Das war sein Lieblingsausdruck geworden, als würde sich sein ganzes Leben darin spiegeln. Immer wieder, wenn es später schwierig für ihn geworden war, hatte er sich selbst diese Worte zurückgeholt: »Ubbo Jansen, still fighting.«
Kurz bevor sie den Blue Marlin damals an Bord ziehen konnten, keine zehn Meter mehr vom Motorboot entfernt, tauchte ein Marco auf. Der Hai griff den Blue Marlin
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