Todesbrut
freihabe«, sagte der Typ mit kläglicher Stimme, »und mein Chef denkt, dass ich krank im Bett liege!«
Um das Persönlichkeitsrecht des jungen Mannes nicht zu verletzen, wurde das Gesicht des Golf-Fahrers mit einem grauen Ball unkenntlich gemacht, dafür war aber seine Freundin gut zu erkennen und auch das Nummernschild seines Golfs. Sein T-Shirt mit der Aufschrift Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten trug auch nicht gerade dazu bei, dass er anonym blieb.
Zunächst schien sich der Ausbruch der mutierten Viren auf Emden zu beschränken. Kindergärten wurden geschlossen und Großveranstaltungen abgesagt. Das Wikingerfest musste ausfallen, obwohl bereits die ersten Wikingerzelte aufgebaut waren. Die Flohmarktstände am Hafen mussten zusammenpacken und das Piratenkonzert für Kinder mit der Liedermacherin Bettina Göschl sollte nicht stattfinden. Da Eintrittskarten für Kinder im Kostüm einen Euro günstiger waren, hatten sich vor der Halle bereits dreihundert kleine Piraten eingefunden, die überhaupt nicht darüber lachen konnten … Und weil Piraten sich nicht einfach so weinend zurückziehen, rief Leon Sievers, der sich nicht nur als Käpt’n Rotbart verkleidet hatte, sondern sich auch so fühlte: »Wir entern den Laden und befreien Bettina!«
»Ja! Die Schweine halten sie da drin gefangen! Piraten, ahoi!«
Ein paar einsichtige Eltern führten ihre Kinder zu den Autos zurück, aber längst nicht alle kleinen Piraten waren mit Eltern oder Lehrern gekommen. Eine Stimmung entstand wie kurz vor einer Meuterei.
Die zwei jungen Polizeibeamten, die mit der Frau vom Jugendamt auf Wunsch des Ordnungsamtes erschienen waren, sahen sich ratlos an. Sie fragten Bettina Göschl, ob sie nicht wenigstens hier draußen vor dem Gebäude einen Song singen könnte, um die aufgebrachten Kinder zu beruhigen, und danach sollte sie die Kinder nach Hause schicken.
»Auf Sie hören die vielleicht …«, sagte der Beamte mit den Lachfältchen und dem Schnauzbart. Seine Lippen zuckten. Mit Bankräubern wäre er fertiggeworden. Mit Kneipenschlägereien kannte er sich aus. Aber so eine große Gruppe verkleideter Kinder machte ihm Angst. Er war Polizist, kein Kindergarten-Cop.
Die als Piratin verkleidete Sängerin lüftete ihre Augenklappe und musterte ihn kritisch. Ihr Blick machte ihn nervös. Er fügte augenzwinkernd hinzu: »Sieht ganz so aus, Frau Göschl, als hätten Piraten hier im Moment mehr Autorität als Polizeibeamte.«
»Glauben Sie denn«, fragte die Sängerin, »dass die Ansteckungsgefahr hier draußen für die Kinder geringer ist als drinnen? Außerdem gibt es ein Problem: Viele Kinder wissen nicht, wohin. Sie werden hier nach der Veranstaltung von ihren Eltern abgeholt. Zu Hause ist jetzt vielleicht niemand. Die Eltern sind einkaufen oder nutzen die Zeit sonst wie. Wir können doch nicht so einfach ein paar Hundert verkleidete Kinder mit Holzschwertern in die Innenstadt schicken. Ohne eine Aufsicht.«
Die schmallippige Frau vom Jugendamt mit den Stoppelhaaren seufzte. Vor Kurzem hatte sie noch Rastalocken getragen, aber die gefielen ihrem neuen Freund nicht und so blieb ihr scheinbar nur die radikale Entscheidung, über die sie sich jetzt ärgerte, denn genauso schnell wie die Dreadlocks war auch der neue Freund weg.
Aus dem Neuen Theater kam die Bäckereifachverkäuferin Silke Groß. Die Bäckerei Sikken hatte versprochen, die Veranstaltung mit Rosinenkrapfen zu sponsern, Piratenkugeln genannt. Jedes Kind sollte kostenlos einen Krapfen bekommen. Silke Groß fragte nach, was jetzt mit den Backwaren geschehen solle.
Der Herr vom Ordnungsamt fragte irritiert die Sängerin, ob er nicht besser erst beim Gesundheitsamt anrufen sollte. Silke Groß fühlte sich dadurch beleidigt und Bettina Göschl lachte. »Von einem Vogelgrippevirus in Rosinenkrapfen habe ich noch nie gehört. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass wir uns hier alle ein bisschen hysterisch verhalten? Niemand wird ja aufhören zu essen, bis alles vorbei ist. Wenn wir den Kindern die Krapfen nicht geben, werden sie sich gleich von ihrem Eintrittsgeld massenhaft Eis und Schokolade kaufen …«
»Mach sie fertig, Bettina!«, brüllte eine Piratin, die höchstens sieben Jahre alt war, sich Jenny nannte und wie viele andere Fans genau so verkleidet war, wie sie Bettina aus dem Piratenfilm kannte.
Erstaunlicherweise wurde Jenny zu einer Autorität in dieser Situation. Sie brachte die Polizeibeamten dazu, bei der Verteilung der Krapfen zu
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